Im Schatten des Kreml
ins Fleisch schneidet.
»Sehen Sie nach, was Sie finden können«, sage ich zu Golko, der sich zögernd in Bewegung setzt und den Blick auf die Hand des Offiziers geheftet hält.
»Sei ruhig!«, fahre ich den Offizier an, aber er kreischt weiter, also drücke ich den Griff nach vorn wie eine Gangschaltung, damit er auch wirklich einen Grund hat. »Jedes Mal, wenn du schreist, mache ich das noch mal. Verstanden?«
»Ja!Ja!«
Blut breitet sich um den Messerschaft herum aus und zerfließt wie ein Spinnennetz bis zu seinen Knöcheln und angespannten Sehnen. Weiteres Blut rinnt ihm übers Kinn, offenbar hat er sich auf die Lippen gebissen. Er atmet schnell und flach, wie eine Frau in den Wehen. Golko läuft den ersten Gang entlang und blickt zwischen seinem Notizblock und den mit Nummern versehenen Aufklebern auf den Regalen hin und her, dann biegt er um die Ecke. Das Klacken seiner Absätze ertönt jedes Mal, wenn der Offizier den Atem anhält.
»Werft eure Waffen in die Ecke«, sage ich, was die beiden auch tun. Der Offizier kämpft einhändig mit seinem Halfter und versucht, sich so wenig wie möglich zu bewegen.
Golkos Schritte stoppen. Papier raschelt, dann geht er weiter. Nach ein paar Minuten quietscht ein Metallbein, als er eines der Regale zur Seite schiebt, um an ein anderes zu gelangen. Der Offizier verbirgt das Gesicht in der freien Armbeuge. Sein ganzer Körper zittert, aber er versucht ruhig zu wirken. Sein Kollege hält die Hände vors Gesicht, er will weder etwas sehen noch gesehen werden. Ich gehe um den Tresen herum, um die Tür im Blick zu haben, wenn jemand hereinkommt. Im Fernseher laufen immer noch Zeichentrickfilme. Gerade fängt ein neuer an. Eine Katze wird von einem Baby-Känguru verprügelt, das sie für eine Riesenmaus hält.
Fünfzehn Minuten später ist Golko wieder da. Er schüttelt ernst den Kopf und zeigt auf den Computer. Ich muss nur den Griff des Messers berühren, und der Offizier springt mit einem stöhnenden Schrei auf, als säße er auf dem elektrischen Stuhl.
»Wie ist das Passwort?«
Er leiert eine Reihe von Zahlen und Buchstaben herunter. Golko gibt sie ein und klickt diverse Fenster an. »Wie sind die geordnet?«, fragt er, ohne aufzublicken.
»Nach Jahr und Aktenzeichen«, antwortet der Offizier hastig, noch bevor ich nach dem Messer greifen kann.
Golko tippt mehrere Minuten lang weiter. Er macht sich ein paar Notizen auf seinem Block. Ein Schatten huscht über das Milchglas in der Tür. Ich schlüpfe zur Seite, zum Angriff bereit, aber es kommt niemand. Fünf Minuten später schaltet Golko den Computer aus.
»Fertig«, sagt er.
»Nehmen Sie die Festplatte mit.«
Er sieht mich einen Moment lang an, holt ein Messer, das an seinem Schlüsselbund hängt, aus der Tasche und schraubt damit die Rückwand des Computers auf. Er entfernt zwei weitere kleine Schrauben, nimmt die Platte heraus und steckt sie ein.
Ich drücke die Hand des Offiziers nach unten und ziehe am Schaft meines Messers. Ich muss ein bisschen daran rütteln, und er schnappt nach Luft. Als die Klinge herauskommt, lässt er sich auf den Kachelboden fallen und presst die verletzte Hand gegen die Brust.
»Warten Sie draußen auf der Straße auf mich«, weise ich Golko an.
»Sie dürfen sie nicht töten!«, zischt er.
»Gehen Sie einfach, Leutnant.«
Er entfernt sich widerwillig und blickt über die Schulter zurück. Als ich sicher bin, dass er weg ist, reiße ich die Kabel aus Fernseher und Computer und fessle beide Männer mit den Händen hinterm Rücken, ohne den Offizier zu schonen, als ich den Knoten festzurre.
»Wir sagen sowieso nichts«, keucht er und beißt die Zähne zusammen. »Das wäre unser berufliches Ende.«
Ich kontrolliere ein letztes Mal die Fesseln. Sie müssen nicht lange halten, nur bis Golko und ich das Gebäude verlassen haben.
Draußen ist es noch dunkel, aber der morgendliche Verkehr hat bereits begonnen. Ich führe Golko durch die Menschenmengen zu einem Feinkostgeschäft mit Tischen im hinteren Bereich und bestelle zwei Tassen Tee.
»Was haben Sie mit den beiden gemacht?«, fragt er. Seine Hände zittern, aber nicht vor Kälte, vermute ich.
»Was haben Sie herausgefunden?«
Er sieht mich einen Augenblick an, bevor er den Notizblock hervorholt. Darauf stehen die Zahlen aus dem Kofferraum, 75859113323. Jede einzelne ist mehrmals angestrichen. Ich nehme an, dass er mit dem Bleistift darübergefahren ist, als er letzte Nacht versucht hat, hinter ihre Bedeutung zu
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