Im Schatten des Kreml
kommen.
»Ich sehe es folgendermaßen«, beginnt er. »Die mittleren fünf Ziffern stehen für eine Prozessakte. Wir haben die sechste Ziffer für eine Eins gehalten, aber das ist ein Irrtum – es ist ein Strich. In der Mitte haben wir also fünf-neun-strich-eins-drei. Normalerweise folgen auf das Aktenzeichen vier Ziffern für den Monat und das Jahr – so war es bei allen anderen Akten. Aber in diesem Fall können wir davon ausgehen, dass das Jahr 2003 war, weil ich im Archiv unter diesem Jahr die neunundfünfzig-zwölf und die neunundfünfzig-vierzehn gefunden habe, aber keine dreizehn. Die Akte war weg.«
»Was ist mit dem Computer?«
»Sämtliche Daten wurden gelöscht. Aber sie haben zwei Querverweise vergessen. Die Inhalte dieser Ordner wurden zwar auch gelöscht, aber nicht ihre Namen.«
Ein Mann in Khakihosen und weißem Hemd bleibt an unserem Tisch stehen und fragt, ob wir frühstücken wollen. Hinter ihm, im Eingang zum Restaurantbereich, erscheinen zwei uniformierte Männer, die mit ihren roten Baretten nicht zu übersehen sind. Sie sehen sich kurz um, wechseln ein paar Worte und gehen wieder hinaus auf die Straße. Ich scheuche den Kellner weg, gerade als Golko etwas bestellen will. Er kräuselt die Lippen und blättert die Seite in seinem Notizblock um.
»Der erste Querverweis führte zu einem Ordner namens Starye Atagi.« Er blickt hoch und wartet auf meine Reaktion. Offenbar hat der General ihm nichts von dem Anruf der Frau namens Charlie erzählt. Da ich nichts erwidere, fährt er fort: »Ich vermute, das war der Hauptordner, in dem alles archiviert war, was dort vorgefallen ist. Was bedeutet, dass die Datei, die wir suchen, neunundfünfzig-strich-dreizehn, unter Umständen eine von vielen ist, die in diesem Ordner gespeichert waren.«
»Verstehe.«
»Der zweite Querverweis bezieht sich auf einen Oberst der Achtundfünfzigsten Armee namens Joseph Melnik.«
Ich richte mich auf. »Jetzt wird es interessant. Wenn er zur Achtundfünfzigsten gehörte, lässt sich alles über ihn herausfinden, was wir wissen müssen...«
Golko wedelt mit seinem Notizblock, um mich zu unterbrechen. »Ich habe mir Melniks Akte schon angesehen. Gestern Nacht. Unseren Unterlagen zufolge hat er nie in der Nähe von Starye Atagi gedient.«
»Warum haben Sie sich seine Akte angesehen?«
»Ich war in Dubinins Quartier, wie Sie es mir aufgetragen haben. Dort habe ich ein paar hingekritzelte Aufzeichnungen in einer Truhe gefunden. Eine bezog sich auf ein Gespräch, das er mit Khanzad hatte, es ging dabei um den Verkauf und die Übergabe des Eis. Der Name Joseph Melnik kam auch vor, er hat ihn mehrmals umrandet.«
»Wenn Hauptmann Dubinin Aufzeichnungen gemacht hat, dann bestimmt keine unwichtigen. Sie müssen weitersuchen.«
»Jawohl, Herr Oberst.«
»Wo wohnt Melnik?«
»In Wladimir – wo die Übergabe stattfinden sollte.«
Nach Wladimir sind es zweieinhalb Stunden. Nicht gerade das, worauf ich Lust habe, aber dass Melniks Name an zwei verschiedenen Stellen auftaucht, ist der erste brauchbare Anhaltspunkt, den wir haben. Zuerst muss ich allerdings Mascha besuchen. Ich will unbedingt wissen, warum sie angerufen hat.
»Wir fahren heute Nachmittag zu Melnik und reden mit ihm.«
Er nickt. »Ich habe den Vermerk von Ihrem Gespräch mit der Frau gefunden, deren Sohn im Rostower Leichenschauhaus lag. Der Junge war Mechaniker beim Fünfundvierzigsten Luftwaffenregiment.«
»Ivaschko.« Plötzlich erinnere ich mich, ich höre die Stimme seiner Mutter in meinem Kopf. »Er hieß Ivaschko.«
»Das ist richtig.«
»Irgendeine Verbindung zu Starye Atagi?«
»Nicht, dass ich wüsste. Ich überprüfe das noch mal.«
»Und zu Dubinin? Oder Melnik?«
»Nein.«
Er nippt langsam an seinem Tee und sieht mich über den Rand der Tasse hinweg an. »Ich will Ihnen etwas zeigen.«
Er schiebt seinen Block zu mir herüber und platziert seinen Zeigefinger so auf dem Zahlencode, dass auf jeder Seite drei Ziffern übrig bleiben.
»Wir wissen, was die mittleren vier Ziffern und der Strich bedeuten, richtig? Das ist unsere fehlende Datei, und darin dokumentiert ist ein Vorfall in der Nähe von Starye Atagi.«
»Weiter.«
»Nimmt man diese vier weg, bleiben sechs Ziffern übrig. Und genau die ergeben die Nummer eines Soldatenausweises. Und jetzt raten Sie, wessen Ausweis.«
»Hauptmann Dubinins.«
Golko schweigt, ehe er dann traurig nickt. »Die Nummer des Hauptmanns war sieben-fünf-acht, drei-zwei-drei.«
»Informieren Sie den
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