Im Schatten des Mondlichts - das Erbe
stand vor der Tür und sah zuerst Karsten, der eilig die Stufen nach oben rannte. Aus dem Erdgeschoss hörte sie Roman erklären, dass sie nur die obere Etage bewohnten und im unteren Teil des Hauses die Eigentümer der Villa lebten. Alice plapperte aufgeregt, doch ihre Worte drangen nicht bis ins Obergeschoss.
»Alice ist völlig aus dem Häuschen. Ihr lebt in ihrem Traumhaus.« Karsten drückte Naomi zwei Küsse auf die Wangen und umarmte sie. »Aber sie beruhigt sich schon wieder.«
»Mir war klar, dass Alice ausflippen würde. Wenn ich daran denke, wie wir auf dem Campus in Stillwater gewohnt haben, ist das hier ein Palast.« Naomi beugte sich zu Karsten. »Naja, solange man von den verrückten Gestalten hier mal absieht. Roman hat uns mit der Addams-Family verglichen.«
»Sehr treffend«, lachte Karsten. »Romina zeigt auch Züge von Morticia.«
Naomi boxte ihn in die Seite. »Kennt diese Sendung wirklich jeder? Ich musste erst im Internet nachsehen.«
»So ist das eben mit den Sportversessenen. Sie bekommen nichts mit!« Karstens Gesicht nahm ernste Züge an. »Übrigens habe ich meinen Professor angerufen. Am Montag bringt er mir drei Bücher mit, die sich mit der Familie Cortés befassen. Außerdem meinte er, ich könnte im Stadtarchiv in Sevilla mehr über ihn und seine Familienverhältnisse erfahren. Offenbar hatte er mehr als nur ein uneheliches Kind. Mein Prof ist übrigens ganz angetan von der Idee, dass ich darüber eine Abhandlung schreibe. Er stellt mir eine Bescheinigung aus, und am Montag fliegen wir nach Sevilla, um in den Archiven zu stöbern. Mit dem Wisch lassen sie uns problemlos recherchieren.«
»Dann schwänze ich den Spanischunterricht, lass mir von Roman alles erklären und besorge uns gleich mal die Tickets.« Naomi lächelte Karsten dankbar an. Endlich kam Bewegung in ihre Nachforschungen.
Alice stürmte die Treppe hinauf. »Dieses Haus ist ein Traum!«
»Stimmt. Ein absoluter Glücksfall, dass wir die Wohnung mieten konnten.« Naomi gab die Tür frei. Alice griff nach Karstens Hand und zog ihn mit sich in die Wohnung.
Roman umarmte Naomi und flüsterte: »Ich sollte Alice unten aufhalten. Konnte Karsten mit dir sprechen?«
Naomi bejahte, bevor sie Alice folgte und ihr jedes Zimmer zeigte. Kai schlief, wie die meiste Zeit des Tages, und so schloss sie leise die Tür hinter sich.
»Hier würde ich mich auch wohlfühlen. Das Haus liegt zwar abseits, und die Fahrerei zur Uni wäre ätzend, aber toll finde ich eure Wohnung trotzdem.« Alice schielte nach der offenen Weinflasche. »Das muss begossen werden!«
*
Bevor Roman und Karsten zu ihrer Kneipentour aufgebrochen waren, hatte Naomi den gemeinsamen Abend noch genießen können. Anschließend war es ihr vorgekommen, als würde sie Alice nur eine Lüge nach der anderen auftischen. Jede Antwort, jeder Satz musste wohl überlegt sein, um sich nicht irgendwann in den Ausreden zu verzetteln. Selbst in kleinsten Dingen musste sie lügen. Dabei handelte es sich größtenteils nur um harmlose Fragen. Wer bezahlte den Spanischunterricht? Leandra. Wie viel kostete die Miete? Dreihundertfünfzig Euro. Wer achtete auf Kai, während sie Unterricht hatten? Iker, da er nicht mehr arbeitete und sich gerne um Kai kümmerte. Wann käme Leandra sie besuchen? Bald.
Mit jeder Lüge hatte sich ihre Kehle weiter zugeschnürt. Selbst die gelieferte Pizza hatte sie kaum angerührt, wenn sie auch darüber nachdachte, wenigstens während des Kauens nichts mehr sagen zu müssen. Als Alice sie gefragt hatte, ob tatsächlich alles in Ordnung sei, hätte sie ihr am liebsten die Wahrheit gesagt. Zum ersten Mal konnte sie nachempfinden, wie es Katie gehen musste. Diese Geheimnisse, diese Lügen, all das verkomplizierte das Leben. Und Katie lebte nicht mit einer Familie zusammen, die die Wahrheit kannte und akzeptierte.
Als Alice noch vor Mitternacht aufbrach, schloss Naomi mit einem erleichterten Seufzer die Haustür und lehnte ihre Stirn an das kühle Türblatt. Würde es jemals wieder so unbeschwert werden wie früher?
»Nein. Leider nicht.« Iker stand neben ihr. »Ich dachte mir schon, dass es ein harter Abend für dich sein wird. Wie geht es dir?«
»Beschissen.«
Iker wickelte seinen Bademantel enger um sich und rieb sich die Oberarme.
»Geh zurück ins Bett. Du zitterst.« Naomi presste die Lippen aufeinander. »Soll ich dir eine Suppe bringen?«
»Wie wär´s mit einem Tee mit Schuss?« Iker drückte ihr die Schulter.
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