Im Schatten des Mondlichts - das Erbe
klemmte sich in eine halbwegs bequeme Position zwischen zwei Äste und sah sich die leichten Verletzungen an ihren Händen an. Vorsichtig zog sie sich die Holzsplitter aus den Handflächen, die sie sich eingefangen hatte und wartete.
Siebzehn
Pilar stiegen die Tränen in die Augen, als Sammy den gefesselten Roman aus dem Kofferraum zerrte. Ihn Sammy gegenüber so ausgeliefert zu sehen, ließ sie innerlich beben. In der vergangenen Nacht hatte sie verzweifelt versucht, Sammy von seinem Vorhaben abzubringen. Er hatte nur gelacht und sie beiseite gestoßen. Sammys Bruder Christopher gehorchte ihm wie ein kleines Hündchen. Von ihm hatte sie keine Unterstützung zu erwarten, sollte Sammy auf der Lichtung durchdrehen. Wenn er mit dieser Entführung Naomi in den Wald locken wollte, dann hätte es ausgereicht, wenn er Kai mitgenommen hätte. Doch Sammy wollte, dass Roman zusehen musste, wie Naomi starb. Naomi mochte an Stärke gewonnen haben, aber mit Sammy könnte sie es kaum aufnehmen.
Pilar verschwieg Sammy, dass Naomi sich gegen Romina durchzusetzen wusste und wie hart sie trainiert hatte, fast so, als habe sie gewusst, dass sie eines Tages gegen Sammy würde kämpfen müssen.
Immerhin würde Iker nichts geschehen. Sammy und Christopher hatten ihn in den zweiten Stock geschafft und ihn gefesselt und geknebelt in einen der hinteren Räume gesperrt. Pilar hoffte, dass er in diesem verschnürten Zustand die Verwandlung überstehen und sich durch die Fesseln keine Verletzungen zuziehen würde.
Christopher drückte ihr Kai in die Arme. Der Kleine war während der Autofahrt eingeschlafen. Roman wirkte durch die Betäubung immer noch wie betrunken. Die Arme auf den Rücken gefesselt, torkelte und stolperte er durch den Wald. Sammy schien seine Hilflosigkeit zu amüsieren, zumal er ihn widerstandslos immer wieder voranstoßen konnte. Roman stürzte mehrfach. Ein Mal fiel er mit dem Gesicht auf eine Wurzel und zog sich eine Platzwunde an der Stirn zu. Obwohl die Wunde tief war und Roman Schmerzen haben musste, gab er keinen Ton von sich, was Pilar erstaunte.
Romans Stärke beeindruckte Pilar. Sie liebte ihn und würde nicht zulassen, dass ihm etwas geschah.
Je näher sie der Lichtung kamen, desto weniger stieß Sammy Roman voran. Er wollte unnötigen Lärm vermeiden. Pilar war davon überzeugt, dass Naomi kommen würde, wenn sie auch wusste, dass sie alleine kaum eine Chance hatte. Generell war es ihr gleichgültig, ob Naomi in dieser Nacht ums Leben kam, auch wenn das nicht Pilars ursprünglichem Plan entsprach.
Und Sammy hatte recht. Im Anschluss könnte sie Roman erneut betäuben, ihm den Kuss des Vergessens geben, und all die Ereignisse wären aus seinem Gedächtnis gelöscht. Nach einigen Stunden würde sie ihn aus dem Wald retten und so sein Vertrauen gewinnen. Es musste nur so aussehen, als käme sie zufällig vorbei. Alles würde klappen, sollte Sammy ein ehrliches Spiel mit ihr spielen. Doch sie traute ihm nicht.
Auf der Lichtung zwang Sammy Roman, sich unter einen Baum zu setzen. Er warf ein Seil über einen Ast, verknotete diesen mit der Armfessel und zog Roman in eine stehende Position hoch. Seine Arme zeigten in einem Neunziggradwinkel nach hinten, sodass Roman nur gebeugt stehen konnte.
»Muss das sein? Du tust ihm weh«, protestierte Pilar.
»Halt dich aus meinen Angelegenheiten heraus. Wenn du nicht den Mund hältst, dann sorgt mein Bruder dafür, dass du diesen Kerl nie haben wirst, verstanden?« Sammy wandte sich ab. »Was findet ihr nur an ihm. Er ist ein Schwächling und sieht noch nicht mal gut aus.«
Er besitzt alle Eigenschaften, die man sich an einem Mann nur wünschen kann, dachte Pilar, verkniff sich jedoch den Kommentar, um zu vermeiden, Sammy noch mehr gegen sich aufzubringen.
»Los, geht euch umsehen. Ich will keine Überraschungen erleben.« Sammy zog seinen Bruder zu sich. »Du weißt, was du zu tun hast. Sollte Naomi aus irgendeinem Grund gegen mich gewinnen, dann tötest du ihn und nimmst das Kind mit. Bis sie mit Pilar fertig ist, bist du längst verschwunden. Du musst nur leise sein.« Christopher nickte.
Als Pilar die geflüsterten Worte hörte, wusste sie, dass Sammy Roman niemals am Leben lassen würde.
*
Naomi saß reglos auf ihrem Aussichtspunkt und musste sich beherrschen, kein Geräusch zu verursachen, als sie beobachtete, wie Sammy Roman am Baum hochzog, dass ihm fast die Schultergelenke auskugelten. Eine Blutspur lief ihm über die linke Gesichtshälfte.
Pilar
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