Im Schatten des Ringes
ich.
„Wie du es geschafft hast, mir all die Jahre hindurch auszuweichen, ist mir schleierhaft“, sagte er und kniff mir zärtlich ins Ohr. „Eigentlich sollte ich beleidigt sein, mich verletzt fühlen, aber seltsamerweise ist das überhaupt nicht der Fall. Ich bin mir nur nicht über die Art unserer Beziehung im klaren. Man könnte doch annehmen, daß uns beiden die Neigung, die uns aufeinander zutrieb, nach so langen Jahren des Kennens klargeworden sein sollte, so daß wir uns Immer-Freunde, Mehr-als-Freunde oder wenigstens Freunde nennen müßten.“
„Mir war das nie schleierhaft“, gestand ich. „Ich habe immer angenommen, daß Ihr einer Definition unserer Freundschaft deshalb aus dem Weg gegangen seid, weil Ihr nicht sicher sein konntet, welche Rolle ich in Eurem Traum spielte. Ich habe eure Zurückhaltung respektiert, doch im Grunde meines Herzens habe ich in Euch immer nur einen Mehr-als-Freund gesehen.“
„Danke“, sagte er mit offensichtlicher Erleichterung. „Warum gehst du jetzt nicht, ehe die Begierde in mir, unsere Freundschaft nachhaltig zu besiegeln, mich völlig überrennt?“
Durchaus möglich, daß es ein verstecktes Messer war, das er gegen mein wollenes Gewand preßte, jedoch gehe ich davon aus, daß es sich bei diesem länglichen Gegenstand um etwas anderes gehandelt haben mußte. Ich ging ohne ein weiteres Wort.
22
Nebel, der sich im Laufe der Nacht in der Schlucht gesammelt hatte, wurde von einem warmen Zwienachtwind aufgewirbelt und davongeweht. Über mir schälte sich die düstere Konstruktion einer Fußbrücke aus dem Dunst, und ich hörte das entfernte ledrige Flügelschlagen einer aufgescheuchten Fledermaus, die zu ihrer schützenden Höhle zurückkehrte. Die Zwienacht der Expedition war endlich angebrochen.
Sashiem schaufelte den Haufen Schneckenhäuser in die Tasche seiner Schärpe. Dann, als er das Stirnrunzeln seines Bruders gewahrte, reichte er widerstrebend Drigal und mir einige Schneckenhäuser. Obwohl keines der Häuser sonderlich hübsch war, wies ich sie nicht zurück. Die Beute einer nächtlichen Jagd war etwas, das ich für lange Zeit mit den Zwillingen nicht mehr würde teilen können.
Drigal schaute hinauf zum heller werdenden Ätherbrennen. „Ich glaube, es wird Zeit, daß wir aufbrechen, Heao.“
Ich nickte glücklich. Die freudige Unruhe vor dem Beginn der Expedition erfüllte meine Brust. Da ich den Zwillingen erlaubt hatte, die Expedition zu begleiten, bis wir den Damm verließen, war Drigal nicht weniger aufgeregt. Er lächelte, als er seinem Bruder folgte, der bereits vorgelaufen war. Ich erhob mich und suchte mir einen Weg durch einen Haufen verrotteter Weinranken. Diese Schlucht, unterhalb Rellars Höhle gelegen, war zu eng und tief, um vom das ganze Jahr hindurch wehenden Seewind erwärmt zu werden, und jemand hatte einen Sack voller wertvoller Schößlinge, die er hier eingepflanzt hatte, beim ersten Frost verloren. Die verfaulenden, wachsähnlichen Blätter bildeten jedoch für die Schnecken ein hervorragendes Futter, wodurch die Zwillinge und ich mehr als einmal zu einer köstlichen Mahlzeit gekommen waren.
„Wer ist der schnellste, Heao!“ schrie Sashiem, der bereits an der Seitenwand der Schlucht emporkletterte. Drigal war nicht allzuweit hinter ihm. Ich antwortete mit einem ähnlich herausfordernden Schrei, sprang hoch zur nächsten Felskante und begann zu klettern.
Die nächtlichen Jagden mit den Zwillingen und die anderen ausgedehnten Ausflüge in die nahe gelegenen Berge zahlten sich nun aus. Ich war wieder in bester Verfassung. Meine Muskeln gehorchten widerspruchslos, und meine Lungen brannten nicht, bevor ich den oberen Rand der Schlucht erreicht hatte. Ich verharrte für eine Weile und lauschte keuchend den kletternden Jungen. Als sie mich fast erreicht hatten, machte ich ein paar weitere Sprünge und gelangte auf die Spitze. Dabei hatte ich noch einen genügend großen Vorsprung, um aus dem Wettrennen als klarer Sieger hervorzugehen. Die Jungen tauchten an der Kante auf und sanken dann zu meinen Füßen nieder. Dabei schnappten sie nach Luft und lachten ausgelassen.
Nachdem sie sich etwas erholt hatten, gingen wir zum Tempel, wo die Expeditionsmitglieder sich in der überdachten Straße versammelten. Ich stellte zu meiner Überraschung fest, daß sich eine Anzahl von Freunden und Gönnern eingefunden hatte, um uns zu verabschieden.
Chel und Baltsar überprüften den Inhalt der Lasten der Sklaven und arbeiteten dabei
Weitere Kostenlose Bücher