Im Schatten des Ringes
Befriedigung physischer Bedürfnisse ist wirklich nicht schwierig.“
„Der König ist für diese Lebensverhältnisse verantwortlich – zumindest glaube ich, daß seine Stadt auch seine Vorlieben widerspiegelt. „ Baltsar nickte und deutete damit an, daß ich wohl recht hatte. „Andererseits ist er der Hüterin Tarana mit Haut und Haar verfallen und liest ihr jeden Wunsch von den Augen ab, und soweit ich mich erinnern kann, tolerieren Tempelhüterinnen gerade physische Exzesse überhaupt nicht, wenn sie die Möglichkeit haben, sie zu unterbinden. Die Krieger wurden schlagartig nüchtern und verschwanden so schnell sie es vermochten, daraus ersehe ich, daß sie genügend Einfluß hat. Doch der König schien es nicht mal zu bemerken, oder es war ihm völlig gleichgültig.“
„Er hat es schon bemerkt“, meinte Baltsar, „doch er ist kein Durchschnittsmann, kein einfacher Bürger, und Tarana darf sich niemals durchschnittlicher, üblicher Mittel bedienen – trotz ihrer bevorzugten Stellung an seinem Hof.“
„Aber was ist denn sein wahrer Lebensstil – der lässige, lockere, den er im Umgang mit seinen Kriegern pflegt, oder der ernste, förmliche, den er mit Tarana teilt?“
„Beides“, antwortete Baltsar. „Er ist tolerant und intelligent. Er sieht diese beiden Lebensarten nicht als grundsätzlich gegensätzliche Erscheinungen an. In seinem Verständnis sind sie Abschnitte eines Ablaufs, eines Kontinuums, ähnlich wie Kriegszeiten und Friedenszeiten.“
Wir gingen schweigend weiter, und ich versuchte, die Waren in den Marktständen zu begutachten, aber ich konnte mich nicht richtig konzentrieren. „Ich muß gestehen, daß nach meinem Zusammentreffen mit ihm meine Vorstellungen, wie ich ihn bei guter Laune halten kann … oder von dem, was ihm gefällt, noch ungenauer sind als vorher. Er ist …“ Fast hätte ich „launisch“ gesagt, doch ich entschied mich für „kompliziert“.
„War das Problem, ihn richtig einzuschätzen, einer der Gründe, warum Rellar dich mit mir auf die Reise geschickt hat?“
„Eigentlich nur am Rande“, sagte ich. „Rellar wird sich irgendwann schon selbst ein umfassendes Urteil bilden.“
„Dein Meister sieht ohne seine Sehkraft mehr als die meisten Menschen, die gesunde Augen haben.“
Ich nickte geistesabwesend. „Gewöhnlich ist die Beziehung zwischen einem Edlen und einer Hüterin nicht mehr als Ausdruck eines Machtverhältnisses. Irgendwie ist die Beziehung des Königs mit Tarana jedoch anders gelagert.“
Baltsar begann mich vom Markt wegzuführen. Dabei legte er mir einen Arm um die Schultern und drückte mich an sich, damit er sich nicht anstrengen mußte, mit seiner Stimme das Geschrei der Feilschenden zu übertönen. „Da hast du recht. Diese Beziehung ist ganz anders. Unser König wird von schlimmen Träumen heimgesucht. Ich hab’ gehört, er könnte nicht schlafen, weil die Schreie der mißhandelten Kinder ihn bis in die Nacht verfolgen und er kein Auge zutut aus Furcht, daß die Rache der Götter ihn für die Untaten ereilt, die während seiner Regierung begangen worden sind.“
„Ein bißchen spät, auf sein schlechtes Gewissen zu hören, nicht wahr?“ meinte ich kühl und gedachte dabei der Toten, die ich auf den Schlachtfeldern meines Heimatlandes gesehen hatte.
Baltsar schüttelte den Kopf. „Er war niemals ein grausamer Mann. Sein Helfer und Ratgeber war der Blutrünstige. Die einzige Schuld des Königs liegt in seinem Ehrgeiz, seinem Machthunger. Nachdem die Königin in einer Schlacht im Tafelland gefallen war, trieben die Träume ihn nahezu in den Wahnsinn, denn nun lag die gesamte Verantwortung für den Krieg allein auf seinen Schultern. Er kam daraufhin hilfesuchend zum Tempel.“
„Und die Hüterinnen, nehme ich an, erklärte ihm, er könne sich reinwaschen, indem er seine kriegerischen Anstrengungen einstellte?“
„Nicht ganz“, widersprach Baltsar. „Auch wenn sie selbst keine Gewalt ausüben, sind die Hüterinnen im Tiefland nicht gerade als Pazifisten anzusehen. Tarana ermutigte ihn dazu, weitere Eroberungsfeldzüge zu unternehmen, bis sie ihre Träume mit den seinen verwob. Gemeinsam sahen sie den Fluch der Götter ähnlich einem Blitz aus dem Himmel herabfahren und den König in eine Feuerwolke einhüllen, während das Reich zu seinen Füßen zerfiel. Und Tarana sah sich selbst als Verstoßene, dazu verdammt, durch das Immernachtgebirge zu irren.“
„Was bedeutet …?“
„Ihr Schicksal ist miteinander
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