Im Schatten des Ringes
Nadelberge“, sagte Joan und wies in die Richtung. „Einige der höchsten Gipfel des Kontinents stehen in dieser Gruppe. Von hier oben sehen sie gar nicht mehr so beeindruckend aus, nicht wahr?“
„Ich kann sie gar nicht erkennen“, gestand ich. „Ich kann nicht sonderlich weit sehen.“
Sergi griff in ein Futteral und holte zwei parallele Zylinder hervor und reichte sie mir. „Versuche mal mit diesem Fernglas“, riet er.
Sie waren schwarz und glatt und fühlten sich kalt an, doch ich hatte keine Ahnung, was ich damit tun sollte. Ich drehte sie um.
„Hmm, Sergi“, machte Joan sich bemerkbar und warf Sergi einen vielsagenden Blick zu.
„Oh, etwa so, Heao“, erklärte er. „Dreh an diesem Knopf, links für normal, nach rechts für infrarot. Nach links also, und jetzt schau mal hindurch.“ Er hob sie an die Augen und führte es mir vor. „Drücke auf das Linsenrohr, bis es richtig eingestellt ist.“
Ich nahm das Fernglas und blickte hinein. Ich entdeckte Berge, Täler, Schluchten und darin Teppiche von Wäldern. Sofort begriff ich, daß ich durch das Ding hindurch und nicht hinein schaute und daß ich jedesmal, wenn ich das Sehfeld änderte, wieder am Linsenrohr drücken mußte, um es nachzustellen. Doch jedesmal konnte ich einen neuen Teil der Welt in größter Deutlichkeit bewundern. Fast war es so, als würde ich eine meiner Landkarten betrachten, nur weitaus genauer und ohne die Legenden, die ich zwischen den Landschaftspunkten eintrug, doch die Ausdehnung der Welt, ihre Weite, war genauso, wie ich sie stets dargestellt hatte.
„Wir nähern uns dem Peilsender“, meldete Joan, und wir begannen einen rasenden, atemberaubenden Abstieg.
Joan setzte den Flieger auf einer Bergwiese unterhalb eines einsamen Gipfels auf, wo der Peilsender mitsamt einem Turm stand. Der feine Staub von vulkanischer Asche lag in der Luft, als das Abteil geöffnet wurde, und ich fragte mich, ob der sanfte Wind einen Sturm ankündigte wie der Wind, der immer aus dem Immernachtgebirge wehte, ehe die Stürme meine Heimat überfielen. Nachdem wir das Fahrzeug verlassen hatten, ging Sergi auf einem Pfad über die Ebene und weiter zu einem Zickzackweg, der in den Berghang hineingegraben war. Geduldig wanderte ich mit ihnen über die breite Straße, obwohl ich mit Leichtigkeit einen kürzeren Weg hätte nehmen können, indem ich an Wänden emporkletterte oder über die Felsen sprang. Der schwache Geruch ihrer Maschinen, welche einmal diesen Felspfad benutzt haben mußten, befand sich noch in den Flecken auf dem Straßenbelag. Wie die Sklaven bemerkten meine Gefährten den Geruch überhaupt nicht, selbst als der Wind den starken Duft von Sergis Seife hangabwärts wehte.
„Adriana und Teon sind bereits am Peilturm“, informierte ich sie. Wie auf ein Stichwort hin begrüßte Teon uns von oben, und Adriana trat neben ihn, wobei ihr Arm seine Taille umschlang, als sie zu uns herabschauten. Sie erkannte mich und drängte sich dichter an Teon. Der Wind brachte plötzlich den sauren Geruch ängstlicher Sklaven mit sich, und ich wußte, daß es nicht Teons Angst war, die ich witterte.
„Ich frage mich, wo sie geparkt hat“, meinte Joan und winkte kurz.
„Wahrscheinlich auf dem Felssims“, entgegnete Sergi.
Joan blieb stehen und starrte Sergi an. „Dort würde ich nie einen Flieger hinstellen, noch nicht einmal einen Luftroder.“
Sergi lächelte freudlos. „Sie geht mit dem Ding um, als wäre es ein Stück von ihr. Sie ist gut, Joan. Der Unfall letzte Woche war reines Pech. Sie kennt sich in ihrem Job aus, und sie ist sehr gründlich. Wie viele Mechaniker wagen es schon, hier heraufzukommen, um den Peilsender zu überprüfen? Sie wird nicht mal dafür bezahlt.“
„Ich auch nicht“, schnappte Joan.
Ich vermutete, daß Sergi eine weitere Bemerkung auf den Lippen hatte, doch er sprach sie nicht aus. Statt dessen lächelte er nur, ein leichtes, wissendes Lächeln, und überließ Joan seinen Schimpftiraden.
Joan und Sergi waren außer Atem, als wir den Peilsender erreichten, und sie setzten sich und tranken würzige Flüssigkeiten aus durchsichtigen Flaschen, die sie aus den Hemdentaschen holten. Adriana ging hinter Teon her, der sich nur mit Mühe zurückhalten konnte, zu mir gerannt zu kommen, glücklich, mich nach einer Nacht der Trennung wiederzusehen.
„Hättest du dir das jemals vorstellen können …?“ sagte er und wies auf den Himmel. „Die Geschwindigkeit, die Höhe … als wir so schnell flogen, hatte ich
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