Im Schatten des Schloessli
Beinahekollaps. «Sie haben noch nicht alles gesehen», sagte er stattdessen, machte jedoch keine Anstalten, sich näher zu erklären oder Unold das Entgangene zu zeigen.
Unold durchschaute Geigy auf Anhieb, und zum ersten Mal seit dem Beginn seines Praktikums fragte er sich, ob der Leiter der Abteilung «Leib und Leben» der Kriminalpolizei Aargau womöglich ein weniger grosses Arschloch war, als er gedacht hatte. Doch er war zu stolz, um sich durch das Hintertürchen, das der Vorgesetzte ihm geöffnet hatte, davonzustehlen. «Nach Ihnen», sagte er und trat zur Seite.
Geigy seufzte. «Also gut … Gunnar, hast du für uns zwei Tatortbegehungssets?» Norberg, der eben an der Wohnungstür aufgetaucht war, brummte etwas und machte rechtsumkehrt. «Ich war zwar schon drin, und Sie haben sich hier ja auch schon verewigt, aber Vorschrift ist Vorschrift.»
Es dauerte seine Zeit, bis Haut und Kleider bis auf die wenigen Quadratzentimeter zwischen Mundschutz und Kapuze des fusselfreien Overalls kontaminationssicher weggepackt waren.
«Auf den ersten Blick sieht alles nach einem erweiterten Selbstmord aus», sagte Geigy, als sie endlich, bis zur Unkenntlichkeit verhüllt, am gesichtslosen Torso von Thomas Sarasin vorbei ins Schlafzimmer gingen.
«Und auf den zweiten?»
«Herrgott, Sie sehen doch, dass Gunnars Leute gerade erst mit ihrer Arbeit angefangen haben.» Geigy blieb jäh stehen. «Mit grosser Wahrscheinlichkeit auch dann», fügte er müde hinzu. «Aber genau wissen wir es erst, wenn die Untersuchungsergebnisse vorliegen.»
Den Anblick der toten Frau, die zwischen Bett und Rollstuhl zusammengesackt war, ertrug Unold überraschend gut – trotz des Bluts, das aus ihrer linken Schläfe auf Nachthemd und Spannteppich gesickert war. Als er jedoch das Kinderzimmer betrat, musste er sich am Türrahmen festhalten. Der Kriminaltechniker, der eben mit einem Pinsel gemahlenes Aluminiumpulver auf die Türklinke auftrug, stockte, arbeitete dann aber schweigend weiter.
«Wer macht so was? Die Kleine ist doch höchstens sieben.»
«Sechs», liess sich Norberg in Unolds Rücken vernehmen. «Sie war sechs.» Er schob sich an Unold und Geigy vorbei ins Kinderzimmer.
Wie die Frau war das Kind durch einen Schuss in den Kopf getötet worden. Neben seiner schlaffen Hand lag die hölzerne Puppenstubenmamma, mit der es in seiner Miniaturwelt zum Rechten gesehen hatte, als sein Mörder gekommen war.
«Ich nehme an, er wollte sie nicht allein zurücklassen.» Norberg schwieg und sah auf das Mädchen, das vor einer Stunde wohl noch fröhlich mit seinen Püppchen geplaudert hatte.
«Und wenn es gar nicht Sarasin war?» Unolds Stimme klang brüchig. Er räusperte sich.
«Der grosse Unbekannte?» Jegliche Spannkraft schien aus Geigys Körper zu weichen. «Glauben Sie mir, ich wünschte mir inbrünstig, die DNA -Untersuchung der aufgefundenen Hülsen, die Auswertung der Schuss- und Geweberückstände an Sarasins Händen, die Analyse des Sturmgewehrs und so weiter und so fort ergäben als Täter nur einen: den grossen Unbekannten. Dann müsste ich mich nicht mehr fragen, ob wir das hier hätten verhindern können.»
«Wir hätten ihn vorhin also doch nicht einfach so gehen lassen dürfen?»
«Wir hätten ihm nach allem, was geschehen ist, zumindest nicht noch das Gefühl geben dürfen, als Tatverdächtiger in einem Mordfall in Frage zu kommen … Sechs … Die Kleine war sechs.» Geigy wandte sich um und verliess das Kinderzimmer. «Sie haben mir gerade noch gefehlt», hörte ihn Unold im Wohnzimmer knurren. «Ich dachte, Sie kümmern sich um Simone Morton.»
«Die nächsten paar Stunden wird sie schlafen. Und sollte sie aufwachen, ist meine Mutter dort. Sie passt auch auf den Kleinen auf, solange ich zu tun habe.»
«Sind Sie eigentlich die einzige Amtsärztin in dieser Region?»
«Nein, aber die Einzige, die bereit ist, mit Ihnen zusammenzuarbeiten. Noch.»
«‹Komisch, genau so ist es, wenn man denkt, das Leben könne unmöglich noch schlechter werden, und dann tut’s genau das.›»
«‹Per Anhalter durch die Galaxis›, Kapitel dreizehn. Übrigens ist es mir egal, ob Sie sich in eine Ecke setzen und vor sich hinrosten oder gleich wo Sie stehen auseinanderfallen. Hauptsache, Sie kommen mir nicht in die Quere.»
Saliha Arslan. Unold konnte sich denken, was die Amtsärztin hier suchte. Und irgendwie war er ja froh, sie zu sehen. Eine Legalinspektion des Mädchens aber war das Letzte, was er jetzt noch ertrug.
Das Kind
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