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Im Schatten des Schloessli

Im Schatten des Schloessli

Titel: Im Schatten des Schloessli Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Kahi
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Ende der Bahnhofstrasse, auf der Höhe der Confiserie «Brändli», schlängelte sich der Buchhändler eben durch die Fussgänger und verschwand um die Ecke in einer Seitengasse. Die Müdigkeit brannte in Unolds Augen, und zum ersten Mal seit Geigy ihn aus dem Bett geklingelt hatte, wollte er einfach nur schlafen.
    Geigy nahm die Brille ab, hauchte zwei-, dreimal an die Gläser, rieb sie schier endlos mit dem Saum seines Hemdes und setzte sie umständlich wieder auf. «Fragen Sie mich das in ein paar Tagen nochmals. Aber ohne Strafanzeige von der ASH und ohne dringenden Tatverdacht hätten wir ihn eh nicht festhalten können: Liegt kein Strafantrag vor, gibt es – rechtlich gesehen – auch kein Delikt und damit keinen Grund für uns, auszurücken oder jemanden zu verhaften. Und Sie haben die Dame vom Empfang ja gehört: ‹Der ist sonst ganz anders. Wenn ich mein Geschäft an die Bank verloren hätte und für eine kranke Frau und ein kleines Kind sorgen müsste, würde ich auch ausrasten.› Zudem ist Sarasin nicht einfach gegangen, sondern er hat von sich aus angeboten, am Nachmittag ins Polizeikommando zu kommen und die Angelegenheit zu klären.»
    «Glauben Sie, dass er es war, der Morton umgebracht hat?»
    «Für Glaubensfragen ist die Polizei die falsche Adresse. Doch wenn ich es täte, hätte ich Sarasin nicht gehen lassen.»
    «Es ist nur … Meine Menschenkenntnis hat mich bisher noch nie im Stich gelassen, und auf mich hat Sarasin verzweifelt, aber nicht gewalttä…»
    «Ich weiss, wie Thomas Sarasin vorhin drauf war, und ich versichere Ihnen, seine Faust hätten auch Sie nicht in Ihrem Solarplexus gewollt.»
    Unold zählte innerlich auf zehn. «Die Wut des Verzweifelten», sagte er dann. «Aber da wir uns im Prinzip einig sind, können Sie meinen Überlegungen vielleicht sogar folgen.»
    Geigy lehnte sich in seinem Stuhl zurück und schaute Unold mit hochgezogenen Augenbrauen an. «Ich höre.»
    «Die Verletzungen der Leiche, die Blutlache am Fuss der Treppe und die Scherben der Stirnlampe weisen darauf hin, dass Morton die Treppe hinuntergestürzt oder zumindest unten an der Treppe gestorben ist.»
    «Was die Leiche genau für Verletzungen aufweist, wissen Sie ja noch gar nicht. Aber fahren Sie mit Ihren für einen promovierten Linguisten erstaunlich cleveren Ausführungen fort.»
    Unold verzog keine Miene. «Chris Morton wiegt rund achtzig Kilogramm. Der Täter kann ihn nur die Treppe hinaufgetragen und auf das Wasserrad gelegt haben, wenn er A über grosse physische Kraft verfügt, also jung und durchtrainiert ist, oder – was wahrscheinlicher ist –, wenn er B einen Komplizen hatte. A trifft auf Thomas Sarasin schon mal nicht zu; Sarasin ist zwar nicht gerade alt, aber durchtrainiert ist er ganz bestimmt nicht. Und was B angeht: Halten Sie Sarasin für so hartgesotten, einen geplanten Mord zu begehen, sich dafür einen Komplizen zu suchen und am Morgen nach der Tat am Arbeitsort seines Opfers eine grosse Show abzuziehen?»
    «Vielleicht nicht für so hartgesotten, aber – wie Sie selbst sagten – für so verzweifelt.»
    «Ach kommen Sie, ein Verzweiflungstäter organisiert doch keinen Komplizen, um jemanden umzubringen. Ein Verzweiflungstäter würde oben an der Treppe zum Parkplatz zufällig auf den Mann treffen, den er für den Verlust seines Geschäftes verantwortlich macht. Er würde ihn zur Rede stellen, ihn an den Schultern packen und schütteln wollen. Der Überrumpelte würde erschreckt zurückweichen, dabei das Gleichgewicht verlieren und die Treppe hinunterstürzen. Voller Panik darüber, was er getan hat, würde der Verzweiflungstäter nach Hause gehen und sich in seiner Wohnung vergraben.»
    «Klingt gar nicht mal so übel, Ihr Szenarium. Genau so könnte es sich zugetragen haben.»
    «Und dann kommen zufällig zwei Perverslinge mit einem Sackmesser vorbei, sehen Morton unten an der Treppe liegen und denken sich: Wow, ein Toter. Wir wollten schon immer mal jemanden auf ein Wasserrad legen und ihm die Ohren zerschneiden?»
    «Verschonen Sie mich mit Ihren launigen Kommentaren», rief Geigy ärgerlich. Plötzlich wurde sein Gesicht aschfahl. «Sie wissen doch gar nicht, wozu ein verzweifelter Mensch alles fähig ist!» Bevor Unold auch nur blinzeln konnte, war Geigy von seinem Stuhl aufgesprungen und aus dem Zimmer gespurtet.
    «Wichtige Dienstangelegenheit», sagte Unold in der Schalterhalle entschuldigend zum Rotschopf, der von Geigy fast über den Haufen gerannt worden wäre. Er

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