Im Schatten des Schloessli
zwanzig vor zwölf einen Betrunkenen in der Laurenzentorgasse gesehen, der so ausgesehen habe wie der Mann, der laut ‹ AZ › gestern sich selbst und seine Familie erschossen habe.»
«Wenn der Chauffeur tatsächlich Sarasin gesehen hat, und wenn der zu dem Zeitpunkt wirklich betrunken gewesen ist, spricht das nun für oder gegen Sarasin als mutmasslichen Mörder von Morton?» Geigy sah fragend in die Runde.
«Gegen ihn. Also jedenfalls dann, wenn die Beobachtungen des Chauffeurs zutreffen. Sarasin soll so besoffen gewesen sein, dass er kaum in der Lage war, sein Velo zu schieben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er in diesem Zustand einen Stolperdraht spannen und Chris Morton anschliessend auf das Wasserrad legen konnte.»
«Andererseits würde das die Sache mit dem Wasserrad wenigstens erklären. Nichts von Wiedergutmachung, sondern das Werk von ’nem Betrunkenen.»
«Vergiss es, Liam. Wenn Sarasin bereits Mühe damit hatte, sein Velo zu schieben, wie soll er dann Morton die Treppe hoch zum Wasserrad getragen haben?» Häuptlein schüttelte den Kopf.
«War ja nur so ’ne Idee.»
«Und was ist mit dem Liebespaar, den Handyfotos und den Überwachungskameras?»
«Nichts. Das Pärchen hat weder was gesehen noch was fotografiert, Rotlichter wurden im kritischen Zeitraum keine überfahren, und die Mobile Einsatzpolizei hat noch nicht mal einen Raser vorzuweisen.»
«Wäre ja auch zu schön gewesen.» Geigy streckte die Hand nach der Thermosflasche aus, hielt aber im letzten Augenblick in der Bewegung inne. «Ich nehme an, über die Herkunft des Hammers und des Drahts habt ihr auch nichts herausgefunden.»
«Doch.» Nathalie Schnarrenberger lachte gezwungen. «Dass sie an jeder Ecke zu haben sind.»
«Gopfriedstutz. Viel ist das wirklich nicht.» Diesmal liess Geigy die Hand nicht sinken, sondern zog die Thermosflasche zu sich heran.
«Wenn die Tatsache, dass Johannes Kägi mit einer Sicherheit von fünfundneunzig Prozent die anonymen Briefe an Chris Morton geschrieben hat, nichts ist, dann haben Sie recht.»
«Und das sagen Sie erst jetzt?» Geigy sah Unold fassungslos an.
«Ich wollte es Ihnen vorhin ja erzählen. Aber Sie waren mit Ihrem», er unterbrach sich, «mit Ihrem Tee beschäftigt.»
«Das – geht – Sie – nichts – an! Verstanden?»
«Irrtum, wenn ich bei der Polizei arbeiten soll, geht mich das sehr wohl was an. Und nicht nur dann. Ich habe einmal weggesehen, als sich jemand zu Tode gesoffen hat, ein zweites Mal passiert mir das nicht.»
Geigy mass Unold wütend. «Was ist jetzt mit Johannes?», sagte er dann.
Es klopfte kurz, aber heftig, dann flog die Tür zum Bunker auf. «Bernhard, es gibt noch einen Toten.»
ZWÖLF
«Und der Mann hat nichts gesehen? Er stand ja mehr oder weniger neben dem Opfer.»
«Nichts», bestätigte Unold. «Jedenfalls steht es so im Bericht.»
Geigy seufzte. «Wir nähern uns immer mehr der Drei-Affen-Gesellschaft: Ich sehe nichts. Ich höre nichts. Ich sage nichts. Hauptsache, mir geht es gut und ich habe mehr Geld als der Nachbar.»
«Wahrscheinlich hätten Sie auch nicht bemerkt, aus welcher Richtung der Bumerang geflogen kam. Ich meine, wer rechnet schon damit, dass der Passant vor ihm von einem Bumerang erschlagen wird? Zudem kann so ein Ding bis zu hundertzwanzig Stundenkilometer draufhaben. Das ist an Ihnen vorbeigezischt, bevor Sie auch nur gezwinkert haben.»
«Oder es hat mir die Kehle eingedrückt.»
«Davon schreibt die Rechtsmedizin nichts. ‹Ein heftiger Schlag gegen die Carotis kann eine unmittelbare und ausgesprochen starke Erhöhung des Blutdrucks nach sich ziehen. Als Folge davon drosselt der Körper die Herztätigkeit und erweitert die Blutgefässe. Dies wiederum kann zu Bewusstlosigkeit, Kreislaufkollaps, Schock oder Herzstillstand führen.›»
«Wenn die Kollegen aus der Rechtsmedizin das sagen, wird’s wohl stimmen. Gibt sicher Angenehmeres als einen Schlag gegen die Halsschlagader.» Geigy nahm den Steinhäger aus dem Ablagefach und goss sich drei Fingerbreit ein.
«Haben Sie überhaupt gefrühstückt?»
Geigy leerte das Glas in einem Zug.
«Wann sind Sie gestern nach Hause gegangen? Und was riecht hier so seltsam?» Unold blickte sich um und sog die Luft tief ein.
«Spielen Sie jetzt Nazgûl oder was?»
«Ich verstehe nicht …»
«Nazgûl, Ringgeist, Schwarzer Reiter. Weil Sie so herumschnüffeln.»
«Sie haben doch nicht etwa das da gegessen?» Unold fischte eine leere Raviolibüchse aus dem Papierkorb und
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