Im Schatten des Schloessli
genial. Ein Raum und doch keiner, offen und doch geschlossen. Durch die eng nebeneinanderstehenden Holzstützen, die entfernt an die Barden eines eckigen Riesenwals erinnerten, fiel das Licht ins Innere, das irgendwie keines war, und zeichnete ein sich unaufhörlich wandelndes Licht- und Schattenmuster auf den Boden. Stephan hatte gelesen, dass die Halle an ein mittelalterliches Korn- oder Zeughaus erinnere. Ob dem so war, konnte er nicht beurteilen; es war ihm auch egal. Ihm gefiel einfach das Leichte und Luftige des Baus.
Die Gassen der Altstadt waren rege bevölkert. Das war nichts Ungewöhnliches für die Feierabendzeit. Zahlreiche Restaurants, Bars und Cafés hatten den Gastraum auf die Strasse ausgedehnt, um möglichst viele Gäste aufnehmen zu können. Neben dem Mittagsgeschäft machten die Sommerabende einen wichtigen Teil des Umsatzes aus. Kein Wunder. Falls die neusten Zahlen stimmten, arbeiteten in Aarau achtundzwanzigtausend Menschen. Natürlich wohnten sie nicht alle hier, schon allein deshalb nicht, weil die Stadt bloss zwanzigtausend Einwohner zählte; zudem sprachen der chaotische Feierabendverkehr und das Gewusel am Bahnhof eine deutliche Sprache. Doch ein Bruchteil der Achtundzwanzigtausend sorgte in der Mittagspause und nach Feierabend auf jeden Fall für Betrieb in der Altstadt.
Als Stephan von seiner Praxis durch das Storchengässlein zur Markthalle ging, hielt er wie selbstverständlich nach bekannten Gesichtern Ausschau. Ein langweiliges Gewohnheitstier, so hatte Flora ihn genannt. Er hatte es lachend abgetan und darauf hingewiesen, dass sie nicht viel besser sei. Wer, wenn nicht sie, stehe stets zur selben Zeit auf, frühstücke immer das Gleiche, bekomme fast Pickel, wenn sie links statt rechts von ihm sitzen müsse, und sei unausstehlich, wenn sie nicht mindestens eine halbe Stunde täglich meditieren könne. Insgeheim aber gab er Flora recht. Und er schämte sich dafür. Dabei bestand die halbe Welt aus Gewohnheitstieren. Und viele davon verbrachten ihren Feierabend ganz offensichtlich am und um den Graben. Stephan hätte seine Uhr nach ihnen stellen können. Zum Beispiel der Blonde mit der bis zum Bersten vollen Aktenmappe: Pünktlich um zwei Minuten nach halb sechs tauchte er jeweils beim Hartmann-von-Kyburg-Brunnen auf. Und ohne dass es Absicht gewesen wäre, beendete Stephan seinen kontemplativen Halt bei der Markthalle stets wenige Sekunden bevor der Blonde den Holzbau passierte. Mehr oder weniger gemeinsam gingen sie dann Richtung Graben und von dort zum Kasinogarten.
Stephan sah es als gutes Omen für die bevorstehende Unterredung, dass der Mann, der ihm zwar unbekannt, aber nicht fremd war, ihm auch heute wie gewohnt mit wenigen Metern Abstand folgte. Was der Blonde wohl dachte, wenn er zu «Floras veganer Welt» statt zum «Starbucks» ging? Ob es ihm überhaupt auffiel?
Auf der Höhe der Stadtbibliothek blieb Stephan stehen und atmete tief durch. Flora. Er sah zu ihrer Imbissbude hinüber. Der Blonde war dicht hinter ihm. Stephan konnte das leise Schaben seiner Anzughose hören, wenn sich die Oberschenkel aneinander rieben. Jeden Augenblick würde er an ihm vorbeigehen.
Das Sirren war unvermittelt da. Es schwoll an und blieb gleichwohl nahezu unhörbar. Der Blonde, dachte Stephan. Merkwürdig. Dann gewahrte er einen Schatten, der durch die Luft wirbelte. Dann kam der Schlag gegen seinen Hals. Und dann das Nichts.
* * *
«Wer macht den Anfang?» Geigy nahm einen kräftigen Schluck aus der silberglänzenden Thermosflasche, die er mit in den Bunker gebracht hatte.
Unold betrachtete seinen Chef aufmerksam.
«Was?», knurrte Geigy.
«Ich hoffe, Sie wissen, was Sie tun.»
«Was?», wiederholte Geigy eine Spur unwilliger. «Darf man jetzt nicht mal mehr seinen eigenen Tee trinken?» Er hob die Thermosflasche an den Mund und trank nochmals. Danach schraubte er das Behältnis sorgfältig zu, stellte es vor sich auf den Tisch, kramte das mintgrüne Tütchen hervor und steckte sich eine der scharfen Pastillen in den Mund.
Unold schwieg. Es war ihm nicht entgangen, dass Geigys Hände aufgehört hatten zu zittern.
«Iris, schaltest du bitte Norberg zu und sorgst dafür, dass ich seine Visage nicht sehe», warf Geigy in den Raum.
«Schon dabei.»
«Sehr gut. Dann lasst hören, was ihr herausgefunden habt. Nathalie?»
Nathalie Schnarrenberger räusperte sich. «Die Serienmordhypothese ist negativ. Weder in der Schweiz noch in Deutschland ist ein ähnlich gelagerter Fall
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