Im Schatten des Schloessli
Kinnlade nach unten gesackt. Eben hatte er sich gefragt, ob er für den Kaffee nicht vielleicht doch hätte in seiner Wohnung bleiben sollen. Gewöhnlich liess er die Frau, mit der er eine Nacht verbracht hatte, nicht einfach mit einer hastig hingeworfenen Nachricht in seinem Schlafzimmer zurück. Und nun das. «Unold an Erde. Wie gut, Sie haben Ihren Humor nicht ganz verloren.»
«Das letzte Aufbäumen vor dem Untergang.»
«Gar nicht so schlecht, dieses Sojazeug.»
«Etwas sprunghaft, Ihre Gesprächsführung. Zudem würde ich den Kaffee an Ihrer Stelle erst versuchen.»
Unold lächelte verlegen. Er hatte gehofft, Flora wäre entgangen, dass er das Getränk noch nicht angerührt hatte. «Haben Sie vielleicht einen Muffin?»
Die Atmosphäre veränderte sich schlagartig.
«Da müssen Sie schon Frau Rothpletz fragen.»
«Ich verstehe nicht.»
«Seit gestern macht sich die Frau Doktor in Stephans Wohnung breit. Bis geklärt ist, ob Stephan seinen Nachlass testamentarisch geregelt hat und ich ein Anrecht auf die Wohnung habe, muss ich sehen, wo ich bleibe.»
«Oh», machte Unold nur. «Und was hat der Muffin damit zu tun?»
«Schlafen kann ich zur Not in meinem Imbiss, aber um die Snacks zuzubereiten, brauche ich eine richtige Küche.»
«Schlafen? Hier? Und was meint das Gesundheitsamt dazu?» Sogleich bereute Unold seine Bemerkung. «Bitte weinen Sie doch nicht.»
«Das sagen ausgerechnet Sie!»
Die zwar verlegene, aber nicht unangenehme Stimmung, die kurzzeitig zwischen ihnen geherrscht hatte, war endgültig verschwunden.
«Stephan ist tot, ich habe keine Wohnung mehr, meine mageren Ersparnisse, die in diesen wenigen Quadratmetern stecken, lösen sich gerade in Luft auf, und Ihr Chef sieht in mir eine Mörderin. Vielleicht können Sie über so etwas lachen, ich kann es nicht.»
Unold setzte zu einer Entgegnung an, liess es dann aber bleiben und zog stattdessen seine Geldbörse hervor. «Der Rest ist für Sie.»
Verächtlich musterte Flora den Geldschein, den Unold ihr hinstreckte. «Ihre Almosen können Sie sich sonst wohin stecken!»
«Dann zünden Sie damit in der Kirche eine Kerze für Stephan an.»
Flora nahm die Zehnernote noch immer nicht, protestierte aber auch nicht länger.
Minutenlang äusserte keiner der beiden ein Wort.
«Nehmen Sie wenigstens das», brach Unold endlich das Schweigen und legte ein ledernes Nilpferd mit zwei Schlüsseln am Schwanz auf die Theke.
«Ein Schlüssel?»
«Mein Schlüssel.»
Flora wurde über und über rot. «Und was soll ich damit?»
«Auf eBay verkaufen.»
«Wie jetzt …» Unsicher drehte sie den Mini-Schlüsselbund in ihrer Hand.
«Was sollen Sie wohl damit: Sie brauchen eine Wohnung; ich habe eine. Sie brauchen eine Küche; ich habe eine. Bis auf Weiteres wohnen und kochen Sie einfach bei mir.»
«Aber …»
«Wo ist das Problem? Ich schlafe auf dem Sofa, wenn es das ist, was Ihnen Sorgen bereitet.»
«Und Ihr Chef?»
«Geigy? Keine Ahnung, wo der haust. Jedenfalls nicht in meiner Wohnung.» Einen Wimpernschlag lang meinte Unold, Flora begänne zu lachen. Doch das Zucken in ihrem Gesicht legte sich so rasch wieder, wie es gekommen war.
«Ich dachte eher an mögliche Konsequenzen für Sie. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es legal ist, wenn ein Ermittler der Hauptverdächtigen Unterschlupf gewährt.»
Unold überlegte kurz. «Erstens sind Sie nicht die Hauptverdächtige; zumindest nicht für mich. Und zweitens geht es nur mich was an, wer bei mir wohnt.»
«Diese Fähigkeit, die Realität auszublenden, habe ich schon an Stephan bewundert.»
«Ein kluger Mann, Ihr Stephan.»
«Ein toter Mann.»
Erneutes Schweigen.
«Geigy wird mich schon nicht umbringen», sagte Unold endlich und notierte etwas auf die noch unbemalte Fläche des Papierschnipsels.
«Aber Sie vielleicht feuern.»
«Möglich. Ich werde mich damit auseinandersetzen, wenn’s so weit ist. Im Augenblick zählt nur, dass Sie sich nicht auch noch um Ihren Imbiss Sorgen machen müssen.»
«Ich weiss nicht. Der Gedanke behagt mir nicht.»
«Ich rühre Sie nicht an, versprochen.»
«Nicht das. Geigy.»
«Jetzt vergessen Sie den alten Griesgram endlich. Wenn er mich rauswirft, werde ich einfach Ihr Kompagnon, und wir schmeissen den Laden hier gemeinsam.»
«Himmelarsch! Wenn Sie machen, was er Ihnen sagt, wird Sie der alte Griesgram kaum feuern – auch wenn es ihn manchmal in den Fingern juckt. Haben Sie den Pressebericht dabei?»
Unold fuhr zusammen. «Hab ich. Aber wenn
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