Im Schatten des Schloessli
Sie mich noch einmal so erschrecken, Geigy, lande ich in der Forensik, bevor ich ihn Ihnen übergeben kann.»
«Wenn ich Sie noch einmal bei einer solchen Äusserung über mich erwische, werde ich mich seiner bemächtigen und Sie eigenhändig in der Forensik abliefern. Und jetzt trinken Sie aus, wir haben zu tun.»
Unold schob die noch volle Tasse von sich weg. «Meinetwegen können wir gehen.»
Wie erstarrt war Flora dem Wortwechsel der beiden Männer gefolgt. Erst als Geigy zusammen mit Unold über den Graben Richtung Laurenzentorgasse davonging und sie begriff, dass der Leiter der Abteilung «Leib und Leben» diesmal nicht wegen ihr gekommen war, löste sich ihre Anspannung, und ihr Kopf begann wieder zu arbeiten. «Die Adresse!», rief sie Unold hinterher.
«Unter dem Serviettenständer.»
Flora war der Zettel, den Unold im Laufe ihrer Unterhaltung unter dem Serviettenständer festgeklemmt haben musste, bisher noch gar nicht aufgefallen. Als sie ihn hervorzog, schlug ihr Herz ähnlich aufgeregt wie in ihrer Kindheit, wenn sie mit ihrem Vater Schnitzeljagd gespielt hatte.
* * *
«Haus A – Rüttmattstrasse 8 – blau – elfter Stock», betete sie vor sich hin, als sie eine Stunde später mit zwei prall gefüllten Einkaufstüten das Tellicenter verliess und den Girixweg entlangging. Sie war sich alles andere als sicher, das Richtige zu tun. Lieber Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden. Für einmal vermochte sie das Gebet ihrer Kindheit jedoch nicht zu beruhigen. Was, wenn Unold ihretwegen doch Scherereien bekam? Oder wenn sie seine Wohnung gar nicht erst fand? Und warum blau? Flora bog vom Girixweg in die Rüttmattstrasse ein und ging auf den ersten der vier mächtigen Wohnblöcke zu, der wie ein Querriegel in der ehemaligen Auenlandschaft stand. Die Bemalung stach ihr sogleich ins Auge. Wie es für ein Gebäude dieser Breite nichts als vernünftig war, hatte das Haus nicht bloss einen, sondern mehrere, mit unterschiedlichen Farben gekennzeichnete Zugänge. Nummer 8 war ganz in Blau gehalten. Bei der gläsernen Eingangstür angekommen, warf Flora zur Sicherheit noch einen Blick auf die Tafel mit den nach Stockwerken angeordneten Klingeln. «P. Unold» stand links neben der schwarzen Elf. Dennoch würden sich ihre allerletzten Zweifel, tatsächlich am richtigen Ort zu sein, erst zerstreuen, wenn sie die Tür mit dem Schlüssel, den Unold ihr gegeben hatte, problemlos aufschliessen konnte.
Der Lift war besetzt. Jedenfalls brummte der Motor, und das Signallämpchen leuchtete. Während Flora noch überlegte, ob sie die Treppe nehmen sollte, knallte ihr auch schon die Lifttür an die Brust.
«Autsch!»
«Sorry.»
Stille.
«Sie wohnen hier?» Die Frage kam so synchron, als hätten sie es vorher eingeübt.
Flora hatte ihre Einkaufstaschen auf den gefliesten Boden gestellt und starrte auf die Frau vor ihr. Diese dünstete den Sex, den sie vor noch nicht allzu langer Zeit gehabt haben musste, geradezu aus. Ihr Haar war noch feucht. Die hautenge Röhrenjeans und das rote Stretchtop unterstrichen ihre makellose Figur. Theatralisch schaute sie auf die Uhr an ihrem Handgelenk. «Huch, schon so spät! Wenn ich mich vor der Arbeit zu Hause noch etwas frisch machen will, muss ich mich sputen.»
Offenbar markieren auch Puten ihr Revier, dachte Flora.
«Patrick ist übrigens nicht da», hörte sie die Schöne sagen. «Falls Sie zu ihm wollen, können Sie sich also die Mühe sparen hochzufahren. Wirklich dumm, dass wir uns nicht oben begegnet sind und ich die Wohnungstür schon hinter mir zugezogen habe. Patrick hätte bestimmt nichts dagegen gehabt, wenn ich sie in seine Wohnung gelassen hätte.»
«Das ist nicht weiter tragisch.» Flora lächelte liebenswürdig, zog die blau lackierte Lifttür auf, lehnte sich mit dem Rücken dagegen, packte mit jeder Hand eine Einkaufstasche und bugsierte alles ins Innere der Kabine.
Die Frau hatte sich nicht von der Stelle gerührt.
«Sie brauchen sich wirklich keine Gedanken zu machen. Für etwas habe ich ja den Schlüssel zu unserer Wohnung.»
* * *
«Das haben Sie wirklich gesagt?» Unold lachte nicht ganz so unbeschwert, wie er es gern getan hätte. «Und Sie haben keine Angst, dafür in die Hölle zu kommen?»
«Das mit der Hölle sehe ich nicht so eng. Zudem halte ich es bezüglich Lüge mit dem amerikanischen
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