Im Schatten des Vogels
sehen, wie gefühlvoll er das Instrument berührt, als wäre es lebendig. Am liebsten würde ich seine schlanken Hände streicheln, doch er fängt meine Finger ein, sobald sie sich verirren. Ich bin steif und ungeschickt, werde rot und lache. Mache noch mehr Dummheiten. Da nimmt er meine Hände, nimmt mich im Eifer ganz in den Arm, und ich lache noch lauter …
In diesem Sommer wache ich mit dem Wissen auf, dass ich hübsch bin. Das hat mir niemand gesagt, und ich habe mir bisher auch keine großen Gedanken darüber gemacht. Papa hat irgendwann angefangen, mich wegen meiner blonden Locken Engel zu nennen.
Ich bin größer als meine Schwestern, schlank und leichtfüßig. Mein Haar ist voll und lang und reicht in zwei dicken Zöpfen bis zur Hüfte. Meine Augen sind groß und dunkel, die Brauen fast zusammengewachsen, die Nase ist leicht stupsig, das Kinn mittellang, und in den Wangen sind tiefe Grübchen. Meine Hände sind schlank und die Finger lang. Sveinn erweckt mich zum Leben, sagt, dass ich Musikerfinger habe.
«Du solltest viel häufiger lachen», sagt er und lässt die Geige sinken. Ich merke, dass ich rot werde, sehe nach unten, und mir wird schwindelig.
«Du hast die schönsten Grübchen, die ich je gesehen habe», fügt er hinzu. «Zeig sie mir!»
Ich inspiziere den Holzboden im Gesellschaftszimmer und komme zu dem Schluss, dass er mal wieder geschrubbt werden müsste. Da tut er die Geige weg und legt seine Hände auf meine Wangen. Sie sind weich und warm. Ich hebe den Blick und sehe ihm direkt in die braunen Augen. Da wird mir noch schwindeliger, doch er hält mich. Ein Lächeln stellt sich ein.Morgens vor dem Aufstehen genieße ich es, dazuliegen und an Sveinn zu denken. Dann ziehe ich mich mit großer Sorgfalt an. Manchmal beobachtet Gauja mich oder schimpft mit mir. Ich tue so, als würde ich sie nicht hören. Kämme mich. Löse die Zöpfe und kämme sie noch einmal. Schaue in meinen kleinen Spiegel. Nicke dem Mädchen zu, das ich darin sehe. Und lächle, bis die Grübchen zum Vorschein kommen.
Draußen auf dem Hof sehe ich mich um. Bachstelzen fliegen umher, und auf der Wiese leuchten die Butterblumen. Der Gletscher glitzert in der Morgensonne. Blitzschnell schiele ich zur Lagerraumtür. Da fällt mir ein, weshalb ich hinausgegangen bin, drehe mich in Richtung Osten, schaue hoch zur Sonne, verneige und bekreuzige mich und spreche mein Morgengebet. Dann gucke ich wieder zum Lagerraum.
Im letzten Jahr war Sveinn wegen seiner Schwindsucht in Reykjavík, doch es hat kaum geholfen. Auf der Reise hat er die alte Geige bekommen und vor seiner Heimkehr auch ein paar Informationen darüber, wie man sie spielt. Hat jede freie Minute zum Üben genutzt.
Er ist das älteste von elf Geschwisterkindern und möchte später einmal in die Fußstapfen seines Vaters treten. Andererseits möchte er aber auch das Geigen spielen lernen, so viel lernen, dass er eine Schule eröffnen und unterrichten kann. Dafür muss er nach Kopenhagen. Wir unterhalten uns über die Schule, träumen vor uns hin.
Sveinn kennt das Harmonium. Er sagt, dass es in Reykjavík in Kirchen und Privathäusern genutzt werde und dass die Töne an den Klang von Papas Akkordeon erinnern würden. Bevor ich mich’s versehe, nehmen meine Träume eine neue Forman. Ich segle mit Sveinn nach Kopenhagen, lerne das Harmoniumspielen, und wieder zu Hause unterrichten wir in derselben Schule.
Diesen Traum behalte ich für mich, traue mich kaum, ihn zu denken, geschweige denn, ihn zu erwähnen. Befürchte, dass er sich auflöst, sobald ich ihn in Worte fasse. Wenn Sveinn vor mir steht und ich ihn ansehe, erfüllt mich eine nie gekannte Sicherheit. Trotzdem erzähle ich ihm meinen Traum nicht. Noch nicht.
Sveinn ist einen Kopf größer als ich, zart und feingliedrig. Sein Haar ist dunkelbraun, und er hat Geheimratsecken. Sveinn spricht nie von seiner Schwindsucht, aber ich höre Papa sagen, dass sie sich merkwürdig verhalte. Dass sie ihn lange in Ruhe lasse und dann mit aller Kraft ausbreche, mit Husten, Röcheln und Müdigkeitsanfällen. Wenn Magnús und die Jungen abends draußen auf dem Hof miteinander ringen, ist Sveinn nicht dabei. Er misst sich auch nicht mit Einar oder Pétur Jakob. Es fällt ihm schwer, die Scheune zu betreten, wo Staub von altem Heu in der Luft liegt, und wegen seines kurzen Atems läuft er nie schnell.
Papa und der Sommerknecht kommen nicht gut miteinander aus. Sie geraten sich täglich in die Haare, und neulich war Papa so
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