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Im Schatten des Vogels

Im Schatten des Vogels

Titel: Im Schatten des Vogels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anika Lüders
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echte Geige gesehen, bloß auf einem Bild, und gedacht, dass sie ganz andere Töne von sich gibt.
    Sveinn hat nicht nur eine Geige dabei, sondern auch Gedichtbände. Die Männer machen sich darüber lustig, dass er im Lagerraum Jónas Hallgrímsson, Grímur Thomsen und Kristján Fjallaskáld auf einem Regalbrett aufgereiht hat. Ich würde die Bücher gerne sehen, betrete den Lagerraum aber nicht.
    In einer großen Gruppe laufen wir hinaus zum Skriðusander, um junge Raubmöwen zu fangen. Die Küken sind aus ihren großen Eiern geschlüpft, flugunfähig, komplett gefiedert, und haben auffällig große Augen. Sie werden mit einem Stock bewusstlos geschlagen, verarbeitet und in einer Tonne gesalzen.
    Einige aus der Gruppe schwingen wie Berserker die Stöcke in der Luft, töten und verletzen. Der Lärm ist ohrenbetäubend. Federn wirbeln wie in einem Schneesturm, und die Küken versuchen mit aller Kraft, zwischen den Steinen zu entkommen, blutig und halb tot. Ihr bitterliches Jammern erinnert an das Weinen von Kleinkindern. Darüber flattern schreiende Möwen. Sie stürzen sich hinunter und versuchen anzugreifen, haben aber keine Chance gegen die Übermacht. Werden verjagt oder mit Stöcken niedergeschlagen.
    Ich bin noch nie bei der Jagd dabei gewesen, und mir verschwimmt alles vor den Augen. Küken sind nicht mehr Küken, sondern weinende Säuglinge. Sie liegen am Strand und kämpfen um ihr Leben. Kristín mit den durchsichtigen Augenlidern, Pálmar mit den kräftigen Händchen, Valdís, die ich nie gesehen habe … Ich schleudere meinen Stock weg, schlage die Hände vors Gesicht und fliehe vor dem Gemetzel. Mir ist schwindelig, ich schließe die Augen, sehe den Tumult aber trotzdem vor mir. Rudere in der Luft, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Da merke ich, dass jemand hinter mir herkommt, und spüre eine Berührung an der Schulter.
    «Ist alles in Ordnung?», sagt eine tiefe Stimme. Als ich die Augen öffne, sehe ich den großen Mann aus dem Westbezirk, mit dem ich bisher kaum gesprochen habe. In seinen braunen Augen sehe ich das gleiche Unwohlsein wie bei mir.
    «Danke, dass du kommst», flüstere ich und halte mich an seinen Armen fest. Ich setze mich, und es geht vorüber. Die Röte steigt mir wieder in die Wangen. Achte darauf, dem Schlachtfeld den Rücken zu kehren.
    Die Sonne geht nicht mehr unter. Sie strahlt am blauen Himmel, größer und heller als je zuvor. Als ich klein war, habe ich die Sonne immer mit Augen, Nase und Mund gemalt. Sie lachte bis zu den Ohren, bis mein Bruder Ingi sagte, dass die Sonne kein Gesicht habe. Da war ich acht Jahre alt. Seitdem habe ich keine Sonne mehr gemalt.
    In diesem Sommer lacht die Sonne wieder. Ich wache durch ihre Lachsalven auf, und wenn ich in die Traumwelt schwebe, steht sie immer noch mit strahlendem Lächeln am Himmel.
    Ich hätte nie gedacht, dass es so schön sein kann, den ganzen Tag über jemanden an seiner Seite zu haben. Sich zu unterhalten und zurückzulachen, selbst wenn dieser Jemand weit und breit nicht zu sehen ist. Nie allein zu sein. Gauja sagt, dass ich eine Bekloppte sei und am besten niemanden an mich heranlassen solle. Sie sagt auch, dass es eine Schande sei, wie ich arbeite.
    Darüber lache ich nur. Alles sprießt so einzigartig. Der Rabe will keine Augen mehr auspicken. Die Lämmer sind weißer und schöner als je zuvor. Und der Fuchs? Hat sich einfach in Luft aufgelöst. Die Blumen in den Senken über dem Hof sind farbenprächtig und duften süß. Auf einmal ist die Welt gut.
    Mein Vogel singt wunderschön. Gegen Mitternacht schlummert alles, und wir schleichen uns nach draußen. Dürfen keine Zeit verlieren, wissen nicht, wann Papa Sveinn wieder nach Hause schickt.
    Eines Abends stoße ich auf Sveinn, als ich nach dem Melken von der Weide zurückkomme. Sehe ihn aus der Ferne, stelle die Eimer ab und schleiche mich von hinten an. Umarme ihn. Er ist überrascht, und jetzt bemerke ich, dass er in eine Schnitzarbeit vertieft ist. Er versucht vergeblich, das Bettkantenbrett zu verdecken, das später einmal, seitlich ins Bett gesteckt, nächtliche Stürze verhindern soll.
    «Wie schön es ist», flüstere ich und setze mich zu ihm. Er wird rot, streicht über das Brett und zeichnet liebevoll den halb fertigen geschnitzten Händedruck nach. Sagt nichts.
    Vorsichtig puste ich die Späne weg, sehe ihm in die Augen und lächle.
    Sveinn liest mir Gedichte vor und will mir das Geigen beibringen. Wir gehen ins Gesellschaftszimmer. Es ist schön, zu

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