Im Schatten des Vogels
wütend, dass er Magnús die Mistschaufel hinterhergepfeffert, ihn einen verdammten Dummkopf genannt und gesagt hat, dass er sich verziehen solle. Zum Glück hat er nicht getroffen. Magnús ist auch nicht gegangen, aber die beiden haben sich gefetzt, und Gauja hat so laut geheult, dass man sie draußen auf dem Hof hören konnte.
Sie ist stinksauer, sagt, dass Papa nicht mit Gesinde umgehenkönne. Ich glaube, dass sie trotzdem zu Hause bleiben möchte und insgeheim gehofft hatte, dass Magnús unser Winterknecht würde. Wenn er gehe, gehe auch sie.
Aber Gauja sagt noch mehr. Sie meint, dass Ninna in den Osten gegangen sei, um Papa zu entkommen. Der Schande zu entkommen, ständig im Gerede zu sein. Nicht mehr Zielscheibe des Gelächters in der Gegend zu sein.
Am schlimmsten ist, was Gauja über Ingi sagt. Sie behauptet, er sei abgehauen, um ein freier Mann zu werden. Dieser Gedanke ist so schmerzlich, dass ich ihn nicht zu Ende denken kann. Papa, der sich – noch lange nachdem Ingi fort war – völlig zurückgezogen hatte. Er, der Ingi seitdem nie wieder erwähnt hat.
Wenn Papa und Magnús sich gut verstehen, ist Gauja blendend gelaunt. Eines Abends ist der Hof voller Menschen, und es werden noch mehr erwartet. Im Gesellschaftszimmer wird getanzt. Die Möbel werden hinausgetragen, und dann spielen Papa und Sveinn Akkordeon und Geige. Sveinn überlässt Papa die Führung, aber ich glaube, dass Papa viel weniger kann. Als ich die beiden dort so vor mir sehe, denke ich, dass die Musik ganz in Sveinn ist, doch an Papa bloß außen dran.
Ich habe noch nie gehört, dass die beiden sich streiten, und ich mag mir auch nicht vorstellen, dass Papa die Mistschaufel nach Sveinn wirft, der doch so langsam ist. Sveinn spielt, dass der Schweiß fließt. Ich spüre, wie mich seine Augen den ganzen Abend über verfolgen. Sie machen mich verrückt und glücklich zugleich.
Das Gesellschaftszimmer ist klein, und die Leute tummeln sich bis auf den Hof. Dort ringen die, die nicht tanzen wollen. Die, die das Ringen männlich finden und das Tanzen als Altweiberkramabtun. Papa will nicht aufhören, will nie aufhören, wenn es gesellig ist, und jetzt sieht man schon die Morgenröte. Da geht einer nach dem anderen, einige ins Bett, andere auf Höfe in der Nachbarschaft, und wiederum andere zum Schafehüten.
Todmüde, aber glücklich schlafe ich bis in den Tag hinein, wache dann jedoch durch Papas Schreie und Flüche auf. Die Schafe stehen grasend auf der Hauswiese – und wo zum Teufel ist der Übeltäter?
«Engelchen, magst du Hulda eben die Milch bringen?», ruft Papa, als er an mir vorbei durch die Tür rauscht. Den ganzen Tag über hat er Schafe geschoren. Er ist erhitzt und rot. Papa bereitet sich darauf vor, die Wolle zum Handelsplatz zu bringen. Das hebt seine Laune.
Es ist ein stiller Abend. Ich nehme die Milchkanne und mache mich auf den Weg hinauf zur Elfensenke. Nebelschwaden hängen über den Gipfeln oberhalb des Hofes, und dünne Schleier liegen hier und da über dem Flachland. In den Senken kocht das Moorweib Brei.
Sveinn kommt hinter mir her. Wir suchen einander, wann immer wir Gelegenheit dazu haben. Lassen keine Chance verstreichen. Verschwitzt und vom anstrengenden Anstieg außer Atem, legt er sich bäuchlings in die Senke am Elfenstein. Er ist völlig ausgebrannt. Hat einen ganzen Tag Schafescheren durchgestanden. Ich streichle sanft seinen Rücken. Streichle lange. Als er sich erholt hat, dreht er sich um und streckt die Hand nach der Milchkanne aus.
«Willst du Huldas Milch trinken?», stammle ich erstaunt.
«Nur einen Schluck», flüstert er. Es sieht aus, als würde er die Milch herunterstürzen. Als er die Kanne endlich absetzt,nehme ich sie schnell und schiebe sie zum Stein. Der Spiegel ist ein ganzes Stück gesunken. Mir ist bange. Ich weiß, dass es am sichersten ist, Huldas Dinge nicht anzurühren. Ich möchte so gerne mehr über ihre Beziehung zu Papa wissen, traue mich aber nicht, danach zu fragen. Möchte so vieles fragen.
«Meinst du, dass ich wegen des Schlückchens Milch verflucht werde?»
Ich schrecke aus meinen Gedanken auf. Vor mir sitzt Sveinn mit Milchbart und einem Lächeln in den Augen. Es hört sich an, als käme seine Stimme von weit her.
«Vielleicht nicht», flüstere ich und trockne ihm zärtlich den Mund. «Aber tu das nie wieder.»
Ich kämpfe gegen das unwohle Gefühl in meiner Brust an. Warum musste er auch damit anfangen? Ich werde die Befürchtung nicht los, dass sich etwas
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