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Im Schatten des Vogels

Im Schatten des Vogels

Titel: Im Schatten des Vogels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anika Lüders
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gegen uns gerichtet hat.
    «Lass mich die Schwermut aus deinen Augen küssen, Engel», flüstert er und nimmt mich in den Arm.
    Ich schiebe die Gedanken über alles bis auf Sveinn beiseite und schmiege mich an ihn. Das Moorweib legt einen Schleier über die Senke. Hulda schlürft ihre Milch und beobachtet uns.
    «Den ganzen Frühling über warst du so anders als sonst», sagt Mutter eines Abends zu mir. Wir sitzen in der Vorratskammer und trennen die Milch vom Rahm. Sie mustert mich.
    «Was meinst du damit?», frage ich zurück und bin dankbar für die Dunkelheit, da ich merke, wie mir die Röte in die Wangen steigt.
    «So glücklich und gut gelaunt», antwortet Mutter. Jetzt schlingt sie die Arme um mich und flüstert mir ins Ohr:
    «Mein großes Mädchen!»
    Es ist lange her, dass Mutter so zärtlich zu mir war. Wann zuletzt, weiß ich nicht mehr. Ich umarme sie. Spüre, wie ich von Liebe durchströmt werde. Sie fühlt sich immer noch so an, wie ich es in Erinnerung habe. Kräftig und sicher.
    Sie schiebt mich von sich und mustert mich im Dämmerlicht. Ich habe das Gefühl, in ihrer Stimme einen verschmitzten Unterton zu hören, als sie fragt: «Ist es Sveinn Björnsson?»
    Ich merke, wie mir heiß wird, als ich seinen Namen höre. Werde ihr erzählen, wie die Tage ihre Farbe gewechselt haben, seit er hier ist. Und auch die Nächte. Möchte, dass sie weiß, dass er immer bei mir ist und es immer sein soll. Sehne mich danach, sie an unserem Glück teilhaben zu lassen. Die ungesagten Worte ersticken in meinem Hals, als sie sagt: «Ich fürchte, dass dein Vater Probleme machen wird. Du siehst ja, wie er zu Magnús ist.»
    Lähmende Müdigkeit befällt mich, die Hände sinken kraftlos. Höre von Weitem Mutters Stimme: «Ich werde versuchen, mich für euch einzusetzen.» Dann streichelt sie mir über die Wange, kneift leicht hinein und wendet sich wieder der Milch zu.
    Kälte kriecht mir den Rücken hinunter. Wie kann sie nur weiterarbeiten, als wenn nichts wäre? Hier geht es um Leben und Tod.
    Seit Sveinn da ist, habe ich jeden Tag festgehalten. Es genossen, mich abends noch einmal an alles zu erinnern, mich auf den nächsten Morgen gefreut. Ich habe davon geträumt, dass es viele Jahre so weitergehen wird, weiß aber, dass Sveinn nicht endlos hierbleiben kann. Die Heuernte rückt näher, und er muss nach Hause. Es geht ihm nur ein bisschen besser, aberer sagt, dass es ihm noch nie in seinem Leben so gut gegangen sei wie mit mir. Er hat mich gebeten, immer bei ihm zu bleiben. Immer. Nichts will ich lieber. Aber eine diffuse Ahnung macht mich unruhig.
    Die Hofbewohner stehen draußen und beobachten alles. Es ist Johannismesse, und Papa macht sich mit einigen anderen auf den Weg zum Handelsplatz. Das Wetter ist freundlich, der Gletscher strahlt. Keine Wolke am Himmel wie den ganzen Sommermonat Skerpla über. Sie reiten mit Säcken voller Wolle und Fisch auf vielen Pferden nach Osten zum Hornafjord und kaufen dort alles, was sie benötigen.
    Papa muss einiges erledigen und rechnet damit, lange weg zu sein. Ich laufe zwischen den Pferden hin und her, gebe ihnen einen Schluck Milch aus einem Eimer, streichle sie und flüstere ihnen zärtliche Worte zu. Bitte sie, auf sich und ihre Reiter aufzupassen. Sie sicher durch Gewässer und Flüsse ohne Brücken zu tragen.
    Papa verspricht, Blusenstoff für Gauja, Gunnhildur und mich zu kaufen. Vielleicht kommt noch etwas dazu. Er ist stolz auf uns, versichert, dass auf keinem Hof in der Umgebung schönere Fräuleins zu finden sind. Er ist großzügig und bringt uns immer mehr mit als das, worum wir gebeten haben, verspricht, für mich einen hellen Stoff auszusuchen. In Gedanken nähe ich immer aus hellem Stoff.
    Papa ist gut gelaunt und drückt und küsst alle auf dem Hof. Nein – nicht alle. Als er vor Sveinn steht, hält er einen Moment inne, sieht ihn an, als wollte er etwas sagen, tut es dann aber doch nicht. Streckt ihm stumm die Hand entgegen.
    Dann steigt er in den Sattel, winkt und ist schon losgeritten.Zweimal dreht er sich noch um und ruft dem grinsenden Magnús, der offensichtlich nicht zuhört, irgendwelche Anweisungen zu. Einar und Pétur Jakob laufen in einigem Abstand den Weg hinunter und sehen den Pferden hinterher. Warten darauf, mitzudürfen. Freuen sich auf den Tag, an dem sie zu dritt zum Handelsplatz reiten.
    Ein Schmetterling setzt sich auf meinen Handrücken, breitet die Flügel aus. Sie sind hellviolett und zittern leicht. Wunderschön in der Morgensonne.

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