Im Schatten des Vogels
kann den Brief auswendig.
Auf der Karte aus England sieht man eine Allee, Pferde und Kutschen. Die Menschen darauf habe ich mir oft angeschaut, besonders ihre Kleidung. Die Frauen tragen lange, helle Kleider und große Hüte. So ein Kleid möchte ich auch mal haben. Und einen Hut!
In meinen Gebeten bitte ich darum, dass Ingi nach Hause kommt. Gebe mich nicht damit zufrieden, dass er fort ist.
Seit dem Winteranfang liegt alles unter einer Schneedecke, und manchmal ist es so dunkel, dass wir kaum einen Unterschied zwischen Tag und Nacht ausmachen können. Der Sonne gelingt es nicht, den gefrorenen Boden aufzutauen. Mittlerweile ist der nächtliche Frost zurückgegangen, und überall steht das Wasser. In der Stallstube ist es nicht besonders kalt, aber das Gesellschaftszimmer ist eisig und wird nicht genutzt.
Im späten Þorri, dem vierten Wintermonat, geht Papa mit einigen anderen auf Fischfang. Der frische Fisch zergeht einem auf der Zunge, sobald er aus dem Topf kommt. Aber ich habe immer Angst, weiß, wie leicht etwas passieren kann, wenn die Boote sich der Küste nähern. Halte den ganzen Tag Ausschau und laufe den Weg hinunter, sobald ich Papa in der Ferne entdecke.
Er will nicht, dass wir dem Meer zu nahe kommen. Vor vielen Jahren musste er zusehen, wie sein kleiner Bruder in der Brandung um sein Leben kämpfte und verlor. Später gaben ihn die Wellen an einem ganz anderen Ort zurück.
Am Strand findet man große Holzstämme. Meist wird Föhrenholz angeschwemmt, aber auch Mahagoni. Papa sammelt das Holz und schafft es mit Pferden nach Hause. Später will er es spalten und für uns alle ein Schloss bauen. Mit zwei Stockwerken und Glasfenstern wie im Gesellschaftszimmer. Vor längerer Zeit hat er mir versprochen, ein Harmonium zu kaufen, wenn es ihm gelingen sollte, das Schloss zu bauen.
Im Winter sind nur wenige auf Reisen. Niemand durchquert die Gletscherflüsse, wenn es nicht unbedingt sein muss. Wenn es kein Wetter zum Fischen ist und Papa nicht vom Hof wegkommt, ist er unruhig, regt sich beim kleinsten Anlass auf, istaber brav wie ein Lamm, sobald Besuch kommt. Umschwänzelt alle, die Heilung suchen.
Ninna ist als Magd nach Ostisland in die Fljótsdalsregion gezogen und schreibt uns amüsante Briefe. Gauja begnügte sich damit, im Osten unseres Bezirks auf dem Víðigerði-Hofeine Stelle anzutreten, und noch bevor der Schneefall einsetzte, konnte sie uns an einem Herbsttag zu Hause besuchen. Das war, nachdem die Geschwisterzahl gewachsen war. Jetzt haben wir zwei Apostel: Pétur Jakob und Páll Jósúa. Und ich dachte schon, Mutter wäre zu alt, um Kinder zu bekommen.
Vielleicht hätte auch ich irgendwo anfangen sollen, aber Mutter bat mich, zu bleiben. Sie will mich zu Hause haben, und das freut mich.
Páll Jósúa ist ruhig und brav. Ich genieße es, seine weiche Haut zu streicheln, und wenn Kristbjörg noch eine Stimme hätte, würde sie mir sicher vorwerfen, ihm verdammten Ungehorsam anzugewöhnen.
Kristbjörg ist friedlich in ihrem Bett eingeschlafen, war eines Morgens fort, als wir anderen aufwachten. Wie es ihr wohl auf dem Weg in Gottes Reich ergangen ist? Ob sie an der Himmelspforte über Petrus gelästert hat? Als ich Papa frage, dem man magische und hellseherische Kräfte zuschreibt, grinst der bloß und sagt, dass er nichts im Bezug auf die Alte gespürt habe.
Ich sitze auf dem Fischstein, sehe ins Abendrot und vermisse Kristbjörg. Sehe sie nicht in den Wolken auftauchen. Atme tief die frische Luft ein. Ruhe mich nach einem langen Tag aus.
In gewisser Weise verstehe ich Ingi. Auch ich möchte fremde Länder sehen, aber trotzdem will ich nicht weg, noch nicht einmal in die nächste Umgebung. Gunnhildur wartet nur darauf, von hier wegzukommen. Manchmal träume ich davon, dass ich an einem neuen Ort bin. Dann wache ich mit pochendem Herzen und schweißgebadet auf. Mir reicht es vollkommen, hinaus auf den Hof zu kommen. Muss immer wissen, dass ich rauskann. Vielleicht war einst dieses schreckliche Etwas im Lagerraum die Furcht davor, in der fensterlosen Hölle eingesperrt zu sein.
Ich schaue hoch in den endlosen Himmel, werde geblendet, als ich den Gletscher anstarre. Drehe den Kopf und lasse meine Augen über den Sander schweifen. Weiß von Treibgut, Robbe und Vogel dort draußen. Da entdecke ich das helle Segel eines französischen Schiffes und merke, dass der Frühling wieder einmal in Sichtweite ist.
Auch Þórarinn ist fort. Zuerst war er noch mit Papa fischen, doch das hat nur
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