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Im Schatten des Vogels

Im Schatten des Vogels

Titel: Im Schatten des Vogels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anika Lüders
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Ganz vorsichtig lege ich meine Hand über den Schmetterling und wünsche mir etwas. Es fühlt sich an, als hätte ich mein Lebensglück auf dem Handrücken. Bitte von ganzem Herzen. Puste den Schmetterling zart an und sehe ihm hinterher, wie er in die Freiheit fliegt.
    Als sie fort sind, ist es, als würde von allen die Spannung abfallen. Wir machen Ordnung nach der Wollwäsche. Mutter backt Küchlein, gießt Kaffee auf, und wir tragen alles rauf auf den Hügel. Sveinn nimmt die Geige mit. Wir summen, und die Sonne wärmt uns.
    Dann treiben wir die Schafe ins Hochland. Ich sehne mich nach einem ganzen Tag mit Sveinn draußen in der Natur. Mutter sagt etwas von einer Großwäsche, Gauja zetert und schimpft und will nicht, dass ich mitgehe. Ich höre ihr nicht zu. Sveinns Nähe macht mich stark, und ich schwinge mich mit den Jungen auf die Pferde, habe eine Hose an und sitze auf einem Männersattel. Sagte Papa nicht, dass ich bei der Arbeit im Freien wie ein Mann sei?
    Einar und Pétur Jakob sind auch dabei. Mutter kommt heraus auf den Hof und bittet mich, auf die beiden aufzupassen. Es freut mich, sie zu sehen. Glaube, dass sie mir nicht böse ist. Merke, dass sie mich versteht. Ich nehme ihre Hände und verspreche,auf die Brüder achtzugeben. Dann ziehen wir los. Versuchen, die Hunde in den Griff zu bekommen, die kläffend die Schafe umkreisen.
    Oben auf dem Bergrücken bin ich Gott so nahe, wie man ihm nur sein kann. Unauffällig falte ich meine Hände und bete im Stillen. Bitte den Erlöser, Sveinn und mich nicht zu vergessen.
    Der Gletscher ist viel größer, als er von zu Hause aus wirkt, der Sander erstreckt sich endlos in den Westen. Am Horizont schimmern weiße Segel. In weiter Ferne ist undeutlich ein Hof auszumachen.
    «Kann man im Osten bis zu Ninna gucken?», ruft Pétur Jakob. Er reckt sich und späht in die Ferne.
    «Ich glaube nicht», antwortet Magnús sofort. «Aber wir müssen achtsam sein. Da vorn sind die Schluchten, ihr wisst ja, was das bedeutet, Jungs!» Magnús ist todernst. Alle kennen die Geschichten, die sich um die Schluchten ranken. Und ich sehe, wie Pétur Jakob Einars Nähe sucht.
    «Lasst euch von Magnús nicht auf den Arm nehmen», sage ich. Die Augen der Jungen wandern von Magnús zu mir, dann wieder zu Magnús.
    In der Brúarschlucht gibt es Riesinnen, die es ausschließlich auf Männer abgesehen haben. Sie sind wahnsinnig groß und tragen Jacken aus zwei Schichten Schaffell, mit Wolle außen und innen. Sie haben Lederhüte auf, langes, ungekämmtes Haar und sollen sehr hässlich sein. Man sagt, dass sie Männer verschleppen, die die Brúarschlucht passieren, und dass man von den Verschleppten nie wieder etwas hört.
    Die Schafherde läuft in die Schlucht und wir hinterher. Pétur Jakob guckt ängstlich in alle Richtungen. Wahrscheinlich ist er einerseits stolz, entkommen zu sein, andererseitsaber auch enttäuscht, keine Riesin gesehen zu haben. Als Nächstes kommt die Valaschlucht. Sie ist lang und schmal, spärlich bewachsen und kühl, und es soll hier ein Falke leben, der Babys entführt und in seinem Nest aufzieht. Diese Kinder wachsen zu fürchterlichen Scheusalen heran. Begegnen sie jemandem, brechen sie ihm die Knochen und töten ihn.
    Als wir die Schlucht hinter uns haben, verteilen sich die Schafe. Wir sitzen ab und holen den Proviant heraus. Pétur Jakob und Einar schlingen das Essen herunter und springen auf. Ich erinnere sie daran, den Kesseln der Riesinnen auszuweichen. Wer in diese Erdlöcher hineinrutscht, kann für immer verschwinden. Die Brüder versprechen ihr Bestes. Wir liegen in der Sonne und lassen die Müdigkeit aus den Gliedern weichen. Haben die Schafe im Blick. Dann sammeln sich die Männer und machen sich auf den Heimweg.
    Wir bleiben allein zurück, und plötzlich packt mich das schlechte Gewissen. Vertraue darauf, dass Magnús gut auf die Brüder achtgegeben hat. Möglicherweise hat er die Jungen mit seinen Geschichten zwar zu Tode geängstigt, sie aber sicher nach Hause gebracht.
    Gegen Mitternacht erzähle ich Sveinn von meinem Traum. Ich möchte bei ihm sein, wo auch immer. Von meiner Angst sage ich nichts. Möchte den Augenblick nicht kaputt machen. Werde mich allein mit Papa herumschlagen. Muss dieses Spiel gewinnen.
    Sveinn sagt, er wisse, dass er sich noch mehr erholen werde. Das habe er gespürt, seit er mich kennengelernt habe. Ich hätte ihm ein neues Leben geschenkt. Er werde um meine Hand anhalten und mich zu sich holen, sobald es ihm

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