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Im Schatten des Vogels

Im Schatten des Vogels

Titel: Im Schatten des Vogels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anika Lüders
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Ärger gegeben. Da ist er in der Fischsaison nach Keflavík gegangen. Halldóra bekommt ab und zu Briefe von ihm, und ich lese sie ihr vor. Dann fühlt es sich an, als wäre er bei uns, und ich werde von Sehnsucht nach den abstehenden Ohren, dem Lachen, den Flüchen befallen.
    Papa ist alt geworden. Es ist ihm sehr nahegegangen, dass Ingi fortging. Er hat kein Wort dazu gesagt, doch ich weiß es. Er verliert langsam das Augenlicht, und das schränkt ihn ein. Als wir im Winter einmal aus den Ställen kamen, sagte er plötzlich in die Stille hinein: «Du hättest ein Junge sein müssen, Engelchen!»
    «Warum sagst du das?»
    «Dann hättest du den Hof übernehmen können!»
    Ich sagte nichts, schlang nur meine Arme ganz fest um seinen Hals und schmiegte mich an seinen Bart, der langsam grau wurde. Und ich merkte, wie sehr ich mich darüber freute, dass er das gesagt hatte.
    Papa ist ständig auf Reisen. Geschichten machen die Runde, alte und neue, wahre und erlogene. Ich kann mir denken, was er treibt, wenn er ewig draußen durch die Gegend zieht. Wenn Mutter wach liegt, weil er nicht nach Hause gekommen ist. Ich höre, wie sie sich im Bett herumwälzt. Man hört von Mägden und Kindern. Einige leben, andere sterben.
    Im Monat Þorri ist unser Hof selbst Ort des Geschehens, und ich merke, wie die Wut in mir brodelt und kocht. Am liebsten würde ich Papa vor die Tür setzen, aber wie immer bleiben mir die Worte im Hals stecken. Ich will ihm eine Lektion erteilen und gleichzeitig über die Wange streicheln, weil ich sehe, dass auch er in Bedrängnis ist.
    Sveinbjörg Brjánsdóttir kommt von einem Hof weiter im Landesinneren zu uns. Sie ist schweigsam und kränklich. Zwei Wochen später gebärt sie in unserer Stube eine kleine Tochter. Papa macht eine Nottaufe, und kaum, dass sie den Namen Kristín bekommen hat, schließt sie ihre Augen. Die dünnen Lider in dem winzigen Gesicht sind hellblau. Dieser Tag ist so düster, dass man durchs Stubenfenster kaum einen Unterschied zwischen Tag und Nacht erkennen kann.
    Als Papa hinaus in den Lagerraum gegangen ist, um über Holz für den Sarg nachzudenken, ertappe ich mich bei dem Gedanken, dass es eine Erleichterung ist, das Kind los zu sein. Ich weiß noch genau, was geschah, nachdem Magga Einar in unserer Stube zur Welt gebracht hatte. Um Kristín wird Mutter sich in Zukunft nicht kümmern müssen. Mutter, die immernoch Páll Jósúa an der Brust hat, ständig müde ist und sich schlecht fühlt. Und spätestens nach der Kreuzerhöhungsmesse wird auch Sveinbjörg weg sein, denke ich eiskalt, weiß aber, dass es neue Sveinbjörgs, neue Kristíns geben wird. Es schaudert mich kalt. Was für ein Mensch werde ich? Dann ist Kristín begraben, und Sveinbjörg kriecht aus dem Bett und beginnt, sich der Hausarbeit zu widmen.
    Eines Abends habe ich, wie so oft, den kleinen Apostel auf dem Arm, warm und weich, muss mich aber setzen, weil die Beine mich im Stich lassen. Als ich sein Gesicht betrachte, sehe ich Papa leibhaftig vor mir, was mehr Fragen weckt, als ich beantworten kann. Wie lange hält der Fluch der Elfenfrau an? Betrifft er nur Papa oder auch Páll Jósúa und die anderen Brüder?
    Ich bleibe sitzen, bis die Seelenqualen nachlassen, und versuche, diese Gedanken zu vertreiben.
    Wieder einmal füllt sich der Lagerraum mit Männern. Knechte und Jungen sind dort zusammen mit Gästen, die bei Papa sind, um gesund zu werden. In den Tagen um die Kreuzerhöhungsmesse ist meine Schwester Gauja gekommen und hat einen Sommerknecht mitgebracht, der Magnús heißt. Er wohnt im Lagerraum und ringt abends mit Einar und Pétur Jakob. In der Zwischenzeit guckt er Gauja an. Sie guckt zurück und sieht dabei so hübsch aus, gertenschlank mit roten, dicken Zöpfen und meergrünen Augen.
    Es ist auch ein Gast aus dem Westbezirk hier. Er heißt Sveinn Björnsson und ist wegen seiner Schwindsucht bei Papa. Ich war gerade dabei, draußen Wäsche aufzuhängen, als ich ihn auf den Hof zukommen sah. Er ist groß und still. Seine Augensind braun, und mir wurde ganz heiß, als ich hineinschaute. Sveinn wohnt bei den jungen Männern und hilft draußen bei leichteren Arbeiten.
    Am Abend klangen Töne aus der offenen Tür des Lagerraums. Ich spitzte die Ohren, fand den Klang traurig und bezaubernd zugleich. Lief schnell hinaus auf den Hof. Sveinn spielte Geige. Alle versammelten sich draußen und lauschten, doch Papa holte sein Akkordeon und wollte, dass sie gemeinsam spielten. Ich hatte noch nie eine

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