Im Schatten des Vogels
schönen hohen Dutt.
«Flichtst du mein Haar nicht?», flüsterte sie ängstlich, doch ich schüttelte den Kopf. Sie sah sich im Spiegel an, und ihre Miene war unentschieden. Die Frau im Spiegel war viel schöner als die Frau, die täglich auf dem Hof herumlief. Der Glanz in den Augen erinnerte an ein junges Mädchen.
«Du musst nicht so steif sein», sagte ich und schmunzelte, als ich beobachtete, wie schwer Mutter alle Bewegungen fielen. Dann reichte ich ihr die Hand und führte sie hinunter in die Wohnstube, wo Papa und meine Brüder Karten spielten. Auch Halldóra saß dort und nähte. Als wir erschienen, wurde es schlagartig still.
«Mutter, was bist du schick!», rief Páll Jósúa und warf die Karten hin. Er tanzte um sie herum, und jetzt schauten auch Pétur Jakob und Einar auf. Halldóra sah schon nicht mehr gut, stand aber auf und befühlte vorsichtig den Stoff des Rockes. Dann lächelte sie. Papa saß wie versteinert und starrte uns abwechselnd an.
«Möchtest du nichts sagen?», fragte ich lächelnd.
Da sah er mich an und sagte mürrisch: «Du solltest Stoff für eine Schürze und ein Halstuch kaufen.»
Die Freude in Mutters Gesicht war wie weggewischt, die Röte wich aus ihren Wangen, während in mir die Wut aufloderte.
«Den Stoff gab es nicht. Und Mutter hat ein schönes Kleid verdient», gab ich ebenso bissig zurück.
«Gab es nicht!», murmelte er ironisch vor sich hin und trat auf Mutter zu. Sie stand da und schaute wie ein schüchternes Schulmädchen auf den Boden. Er begutachtete sie wortlos. Etwas hing in der Luft.
«Welch schöne Frau steht da eigentlich mitten in meiner Wohnstube?», sagte er schließlich schmunzelnd, streckte seine Arme aus und drückte ihr einen überschwänglichen Kuss direkt auf den Mund.
Gunnhildur ist nach Reykjavík gegangen. Sie sagte, dass sie eine Stelle in gutem Hause gefunden habe. Papa war nichtdafür, sie gehen zu lassen, konnte es aber nicht verhindern. Þórarinn, der dadurch in Ungnade gefallen ist, hat ihr die Stelle verschafft. Sie geht immer noch mit der Kopenhagenreise schwanger, hat aber kaum eine Möglichkeit, dieses Vorhaben voranzutreiben. Papa wollte weder etwas von Kopenhagen noch vom Hebammentraum hören. Wollte sie einfach nur zu Hause haben.
Þórarinn glaubte, dass Gunnhildur in Reykjavík eine Ausbildung machen könne. Doch dafür braucht sie Geld, das Papa nicht ausgeben will. Ich versuchte, mich für sie einzusetzen, doch Papa hörte weder auf mich noch auf andere. Als sie aufbrachen, war er niedergeschlagen. Mutter auch. Vermutlich ging es Halldóra am schlechtesten. Ihr Junge war zu einem Sündenbock geworden, der Gunnhildur aus der Bahn geworfen und mit sich nach Reykjavík gezogen hatte. Ich versicherte ihr, dass meine Schwester sich dadurch einen Traum verwirkliche, aber ich weiß nicht, ob sie zuhörte.
Ich musste versprechen, den Hof nicht zu verlassen. Das war leicht. Will mich weder von Mutter und Papa trennen noch meine Brüder verlassen. Niemals.
Vor ihrer Abreise vertraute mir Gunnhildur an, dass sie und Þórarinn verlobt seien. Sie wollte Papa nichts verraten, glaubte, dass es ihn bloß rasend machen würde. Aber sie war sich sicher, dass sie zurechtkommen würden. Eines Abends, kurz bevor sie aufbrachen, bat Þórarinn mich, mit nach draußen zu kommen. Es war ihm eine Herzensangelegenheit, mir zu versichern, wie gern er Gunnhildur habe. Sagte, dass er immer zu ihr halten werde, was immer sie sich auch vornehme.
Unwillkürlich stelle ich Sveinn und Þórarinn nebeneinander. Weiß, dass das ungerecht ist, doch es tut mir im Herzenweh. Warum hat Sveinn nicht so für mich gekämpft, wie Þórarinn es tut? Es fällt mir so schwer, mich damit abzufinden, wie leicht er aufgegeben hat. Besteht noch Hoffnung auf einen Brief? Sollte ich ihm vielleicht schreiben? Ich versuche, immer als Erste die Post durchzusehen. Diesmal soll Papa nichts verheimlichen können, falls ich einen Brief bekomme.
Ich wollte, dass Gunnhildur und Þórarinn Mutter und Halldóra von ihren Plänen erzählten, Papa am liebsten auch, aber ich glaube nicht, dass sie es getan haben. Bei der Verabschiedung drückte ich die beiden fest an mich, und wir Schwestern brachen in Tränen aus. Gunnhildur flüsterte mir zu, dass sie schreiben werde. Und wenn diese Briefe ankommen, werde ich sie laut vorlesen. Ich will nicht, dass es Gunnhildur wie Ingi ergeht, über den niemand mehr spricht, als wäre er tot.
Nachdem Mutter das dänische Kleid bekommen hat,
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