Im Schatten des Vogels
gelaufen, ich war die Zweitbeste, Gunnhildur die Fünfte. Immer noch fragt die Schulleiterin, ob ich nicht doch weitermachen, mehr lernen und Lehrerin werden wolle. Fragt, ob ich nicht Lust hätte, den Aufenthalt in Reykjavík auszudehnen. Ich schüttle den Kopf. Könnte mir schon vorstellen, ewig zu lernen, muss aber fort. Die Madam sieht mich lange an, sagt dann, dass ich mich melden solle, falls ich meine Meinung änderte. Ich nicke und mache einen Knicks.
Den ganzen Winter über habe ich mich nach Lust und Laune durch die Schulbibliothek gelesen. Jetzt gebe ich mein letztes Geld für Gedichtbände aus. Ich schaue mich lange im Buchladen um und entscheide mich schließlich für Bücher von Jónas Hallgrímsson und Kristján Jónsson. Kann die Gedichte auswendig. Genau deshalb wähle ich sie aus.
Wir dürfen unter dem Dach wohnen bleiben, während wir darauf warten, dass der Dampfer ausläuft. Um den Aufenthalt zu bezahlen, räumen wir auf und machen sauber. Jetzt scheint jeden Tag die Sonne, und nach der Arbeit gehe ich hinaus zum Tjörnin und beobachte die Küstenseeschwalben. Bekomme nie genug davon. Mag sie und ihr Rufen.
Madam Poulsen geht nach Dänemark, daher nehme ich keine Musikstunden mehr, übe aber weiterhin auf der Schulorgel. Sie hat mir eine gute Beurteilung gegeben, und nach der letzten Stunde haben wir Kaffee getrunken. Sie bat mich, weiterzuüben und Papa Grüße auszurichten. Zum Abschied hat sie mir den zweiten Band der Harmoniumschule geschenkt.
Als ich ihr Haus verließ, hatte ich das Gefühl, dass ein Kapitel in meinem Leben zu Ende gegangen war. Ich drehte mich zum Winken um, aber die Madam war schon wieder im Haus und hatte die Tür geschlossen. Ich spürte den Drang, zurückzulaufen und sie noch ein einziges Mal zu sehen, vermisste schon jetzt alles, hielt mich aber zurück und drückte das Buch an mich. Lief dann schnell nach Hause.
Der Dampfer ist eingelaufen und liegt im Hafenbecken. Am Abend vor der Abreise laufe ich hinauf zum Turm auf dem Skólavörðuhügel, um ein letztes Mal über die Stadt zu blicken. Das Wetter ist freundlich, und die Sonne scheint. Obwohl ich einen ganzen Winter lang hier war, bin ich kaum dazu gekommen, mir die schönen Berge ringsum genauer anzusehen.
In der Abendsonne ist der Berg Esja goldrot, an den schattigen Stellen violett. In weiter Ferne lassen sich hellbraune Gipfel ausmachen.
Ist das dieselbe Stadt, in die ich im vergangenen Herbst gekommen bin? Damals war alles fremd und hat mich eingeschüchtert.Jetzt liegt sie vor mir und schreckt mich nicht mehr. Aber im Gegensatz zu Gunnhildur möchte ich nicht hier sein, und auch nicht in Kopenhagen. Dieser Traum ist mit Sveinn gestorben.
Die Trauer ist immer noch da. Wenn ich doch bloß die Vergangenheit vergessen, die Angst loswerden und mich auf eine neue Zeit freuen könnte. Wie in alten Zeiten lachen. Wann habe ich zuletzt richtig gelacht?
Sitze lange mit geschlossenen Augen da. Dann öffne ich sie und blicke in den Osten. Versuche, nach vorn zu schauen, mich aufs Nachhausekommen zu freuen. Sehe das Schiff im Hafen, orientierungslos und mit Beklemmung in der Brust.
Dann laufe ich langsam den Skólavörðuhügel hinunter.
IV
Wer hätte gedacht, dass mal ein solches Schloss errichtet werden würde – und das in unserer Gegend? Es steht dem Feinsten in Reykjavík in nichts nach.
Das Haus hat zwei Etagen und einen Speicher unter dem Dach. Das ganze Gebäude ist unterkellert. Innen an der Eingangstür hängt die Adlerklaue aus dem alten Torfhaus. Solange sie im Haus ist, brennt es nicht. Am meisten haben mich die Fenster gefesselt. Immer wieder bin ich die Wiese hinuntergelaufen, um sie anzuschauen. Da waren die Fenster aus unserem kleinen Gesellschaftszimmer, auferstanden im neuen Haus. Die Fenster, die ich einst heimlich poliert hatte, weil ich sie so schön fand. Damals waren es neun Scheiben, jetzt sind es viel mehr, und sie sind viel größer. Frische Luft strömt durch die Fenster, die man öffnen kann, und weiße Gardinen wehen in der Sommerbrise.
In den besseren Häusern in Reykjavík hat man Sommer- und Wintergardinen. Mutter fand das völlig unnötig, sie war durcheinander und konnte sich im neuen Haus nicht wiederfinden. Zog als Allerletzte um. Hielt sich stundenlang im alten Torfhaus auf. Wir hatten Tischdecken aus Reykjavík mitgebracht. Mutter warf einen erstaunten Blick auf die Decken und verstaute sie dann in einer Schublade.
Es war unglaublich, aufzuwachen und einzuschlafen,
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