Im Schatten des Vogels
möchte sie ein weiteres haben, diesmal ein helles. Auf einmal achtet sie auf ihr Äußeres. Mehrmals in der Woche steckt sie sich die Haare hoch. Sie hat ihre alte Alltagskleidung abgelegt und trägt jetzt immer Festtagskleider. Und sie lächelt mehr als sonst. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Papa sie anschaut, aber nichts sagt. Ich selbst möchte mir eine Tracht schneidern. Das Gewand wird aus blauem Samt sein und weite Ärmel haben, die bis über die Ellenbogen reichen. Sie werden mit Spitze besetzt. Den Kopfschmuck zu nähen, traue ich mir zu, nur den geschmiedeten Gliedergürtel muss ich kaufen.
Das neue Haus ist geräumig, aber viel kälter als das alte Torfhaus. Der Küchenherd ist die einzige Wärmequelle. Die Kälte drinnen erinnert an die Mädchenschule, und ganz gleich wiewarm ich mich einmummle, ich bin immer bis auf die Knochen durchgefroren. An den kältesten Tagen will Mutter in die alte Stallstube umziehen, doch davon will Papa nichts hören. Sagt, dass er sie bei nächster Gelegenheit abreißen werde. Vor Furcht wird Mutter leichenblass.
Wir sitzen lange Stunden in der Küche, um uns aufzuwärmen. Am angenehmsten ist es im Stall bei den Kühen, und ich lasse mir beim Melken abends und morgens viel Zeit.
Ich arbeite im Haus und auf dem Hof und weigere mich, eine Magd einzustellen. Habe mir geschworen, dass Mutter niemanden von außerhalb zu Hause ertragen muss, solange ich da bin. Die Brüder tun es mir nach und helfen bei der Hofarbeit.
Pétur Jakob möchte hinaus in die Welt. Will sich umschauen, nach Rom reisen und alte Bauwerke sehen. Baumeister werden. Ich flehe ihn an, diesen Plan nicht zu erwähnen. Er habe keine Eile – vielleicht änderte er noch seine Meinung. Er lächelt und sieht mich mit dem Blick dessen an, der gewinnen will. Er glaubt, dass er unseren Bruder Ingi finden kann. Ich sage ihm, dass er sich nicht zu große Hoffnungen machen solle. Viele Jahre sind vergangen, seit wir zuletzt eine Zeile von ihm erhalten haben. Und das Ausland ist groß.
Páll Jósúa möchte Pfarrer werden. Nicht etwa, weil er besonders gläubig, sondern weil das Pfarrerleben so beschaulich sei. Neben der Arbeit als Pfarrer möchte er lesen, auf dem Meer segeln und tun und lassen, wonach ihm ist. Er ist der Jüngste, faul bei der Arbeit, lacht aber ständig und ist der größte Spaßvogel in der Gruppe.
Der Hübscheste ist Einar, Magga wie aus dem Gesicht geschnitten. Wenn ich ihn ansehe, kann es immer noch vorkommen, dass ich ihren Duft wahrnehme. Dann packt mich dieSehnsucht nach einem Wiedersehen. Was wohl aus ihr geworden ist, nachdem sie in den Osten gegangen ist? Manchmal bedaure ich, dass Einar nicht nach seinen Wurzeln fragt. Doch er scheint keinerlei Verlangen danach zu haben und sieht Mutter als seine eigene Mutter an. Hat keine andere kennengelernt und möchte den Hof niemals verlassen.
Vigfús arbeitet überall in der Umgebung und kommt oft abends oder am Wochenende, um etwas auszubessern und dieses oder jenes fertigzustellen. Ich kann mir schon denken, weshalb er kommt, und es berührt mich, wie treu er ist. Er sieht gut aus und ist charmant, könnte zweifellos viele Mädchen für sich gewinnen. Vielleicht tut er das auch, ohne dass ich davon weiß. Manchmal stelle ich mir vor, dass Vigfús Sveinn ist. Dann geht es mir gut, bis das schlechte Gewissen die Oberhand gewinnt. Vigfús ist nicht Sveinn und wird es nie werden. Sveinn war auch viel lustiger.
Es spricht sich schnell herum, dass ich eine geschickte Schneiderin bin, und ich habe allerhand damit zu tun, die Bestellungen abzuarbeiten. Mit der Zeit widme ich mich nur noch der Hausarbeit und dem Schneidern. Es gefällt mir, Maß zu nehmen und zu beobachten, wie sich ein Stück Stoff in Kleidung verwandelt. Für meine Arbeit bekomme ich Wolle, Fleisch, Eier, Forellen oder andere Dinge, die ich zum Haushalt beisteuere. Wenn große Hochzeiten oder Feste in der Umgebung anstehen, werde ich um Rat und Vorschläge gebeten. Achte darauf, immer gut gekleidet zu sein, gekämmt und zurechtgemacht.
Papa besorgt mir Stoffe vom Handelsplatz. Wenn ich den Hof verlasse, trage ich ein dänisches Kleid und bin oft die Einzige,die so gekleidet ist. Habe mir mittlerweile mehrere Kleider in verschiedenen Farben geschneidert.
Die Nähmaschine steht im oberen Stock auf einem Tisch an einem der Westfenster. Ich drehe die Kurbel, bis Handgelenk und Schulter schmerzen. Zwischendurch sehe ich hinaus zum Gletscher. Halte nach nichts Bestimmtem Ausschau,
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