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Im Schatten des Vogels

Im Schatten des Vogels

Titel: Im Schatten des Vogels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anika Lüders
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starre bloß in die Ferne. Zermartere mir das Hirn, bis der Kopf wehtut. Wie alt müssen Männer werden, um keinen Röcken mehr hinterherzurennen?
    Wieder einmal hat man Papa ein Balg angehängt. Ich habe gehört, wie darüber getuschelt wurde, glaubte es aber nicht, dachte, dass es eine der vielen Lügengeschichten sei. Eines Abends fragte ich Vigfús, was er auf den anderen Höfen aufgeschnappt habe. Er redete die Sache klein.
    Gestern ließ der Pfarrer nach Papa rufen, und ich weiß schon, was das bedeutet. Er ist noch nicht aufgebrochen, hantiert im Arbeitszimmer mit seinen Fläschchen und Tropfen. Stinkwütend springe ich auf und laufe die Treppe hinunter.
    «Willst du dich nicht beeilen?», schreie ich, als ich die Tür aufreiße und hineinstürme.
    «Was ist denn los mit dir, Engelchen?», fragt er und sieht mich erstaunt an.
    «Um das Balg von Stína vom Efrigarðar-Hof anzunehmen! Schämst du dich nicht?»
    Auf einmal wird mir schwindelig, und meine Beine geben nach. Ich lasse mich auf einen Stuhl fallen.
    «Wie kannst du Mutter so behandeln?», schimpfe ich atemlos weiter.
    «Und wie sprichst du mit deinem alten Vater?»
    «So, wie er es verdient und wie ich es schon längst hätte tun sollen», antworte ich und kämpfe mit den Tränen. Merke, dass die Wut nachlässt, möchte aber noch loswerden, dass es so nicht weitergehen kann. Nicht weitergehen darf.
    Papa antwortet nicht. Als er sich umdreht und über die Arzttasche beugt, sehe ich, wie krumm er geworden ist. Seine Schultern sind eingefallen. Im selben Moment denke ich an Einar. Um nichts auf dieser Welt möchte ich ihn missen. Ich zögere, bin hin- und hergerissen, gehe schließlich mucksmäuschenstill und schließe die Tür hinter mir. Kurz darauf sattelt Papa ein Pferd und reitet los. Ich fühle mich schlecht, versuche aber, mich aufs Nähen zu konzentrieren.
    Am frühen Abend kommt er nach Hause. Ich laufe hinaus auf den Hof und falle ihm um den Hals. Er nimmt seinem Ross den Sattel ab, tätschelt es und lässt es laufen. Dann sucht er meine Hand, und wir stützen uns gegenseitig auf dem Weg ins Haus, ohne ein Wort zu sagen.
    Vigfús hat um meine Hand angehalten. Er hat oft zu erkennen gegeben, dass er mich heiraten möchte, aber ich habe ihm durch nichts Hoffnungen gemacht. Wir kennen uns schon lange, trotzdem bin ich unentschlossen und bitte um Bedenkzeit.
    Der Gedanke an Sveinn lässt mich nicht in Frieden. Es ist lange her, dass ich seinen Brief bekommen habe. Seitdem habe ich nichts von ihm gehört. Er wäre sicher nicht wieder zu uns gekommen, aber möglicherweise war er bei einem Arzt in Reykjavík. Ist er mittlerweile vielleicht ganz gesund? Warum nimmt er dann nicht Kontakt auf? Steht zu seinem Versprechen und holt mich.
    Er hat gelobt, niemals Gemeindevorsteher zu werden. Undauch nicht durch die Gegend zu streifen. Nur zu Hause bei mir zu sein. Immer. Wir wollten unser Zuhause mit Kindern, Musik und Lachen füllen. Tränen schießen mir in die Augen. Mit Vigfús kann ich so nicht reden. Und wir lachen nicht gerade oft. Außerdem wird er als Tischler ständig unterwegs sein. Und er würde auch den Gemeindevorstehertitel nicht ablehnen. Aber er wird sich um die Seinen kümmern. Ich genieße es, wenn er mich umarmt. Mich festhält. Und dann ist er auch noch jünger als ich und sieht gut aus.
    Was wird aus mir, wenn ich Vigfús nicht heirate? Bleibe bei Papa und Mutter, solange sie noch leben, und lande dann bei einem meiner Brüder? Bei einer Schwägerin, die mich nicht mag und die ich nicht leiden kann? Werde Magd. Da kommt mir Kristbjörg in den Sinn, fluchend am Fischstein. Obwohl es ein trauriges Bild ist, kann ich beim Gedanken daran ein Lachen nicht verkneifen. Und mir wird warm in der Brust.
    Ich laufe hinauf zur Schlucht oberhalb des Hofes, setze mich in die Nähe der kleinen Eberesche und lausche dem Rauschen des Wasserfalls. Sitze lange dort und träume von vergangenen Tagen.
    Schrecke aus meinen Gedanken auf und merke, dass es schon kühl wird. Auf dem Rückweg mache ich kurz bei Hulda halt und setze mich in die Senke. Lehne mich ganz vorsichtig an den Stein. Hier bin ich nicht mehr gewesen, seit Sveinn nach Hause geschickt worden ist. Tief in meinem Inneren weiß ich, dass Hulda da ist, spüre sie, doch sie hat mir offenbar nichts zu sagen. Vielleicht hat sie den Tropfen Milch, den Sveinn damals getrunken hat, immer noch nicht verwunden. Papa sagt, dass das Elfenvolk nachtragend ist, die Seinen aber auch nicht vergisst.
    Vigfús

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