Im Schatten des Vogels
ihn allein sprechen kann. Ich will die Briefe lesen. Ich weiß jetzt auch, dass er verhinderthat, dass mein Brief den Westbezirk erreicht. Doch als es so weit ist, frage ich nicht. Will nicht, dass Papa mich anlügt.
Ich möchte mit der Schule aufhören und zurück in den Osten gehen, doch davon will Papa nichts wissen. Sagt, dass wir beide das Winterhalbjahr selbstverständlich noch beenden würden. Er schärft mir ein, dass ich eine ausgebildete Schneiderin werden und das Orgelspielen noch besser lernen müsse. Es ist schwer, sich mit Papa zu streiten, wenn er etwas wirklich will. Er weiß, dass im Frühling ein Schiff in den Osten fährt. Sagt, dass uns Schwestern das Segeln Freude machen werde.
Die Schulleiterin schlägt vor, dass ich die zweite Klasse besuche und Lehrerin werde. Sie redet mit Papa und spricht ihre beste Empfehlung für mich aus, drängt mich, weiterzumachen. Ich möchte gerne mehr lernen, aber beim Gedanken an einen zweiten Winter in der Schule schaudert es mich. Erkläre es Papa unter vier Augen. Er lässt mir die Wahl und bucht die Schiffsfahrt. Sagt, dass er uns am Hornafjord abholen werde.
Als er fort ist, werde ich von Platzangst, Leere und Beklemmungen befallen. Meine Schwester schleppt mich an die frische Luft. Sie ist lieb und verständnisvoll.
Gunnhildur möchte in Reykjavík bleiben. Sie möchte dort als Dienstmädchen arbeiten oder noch mehr lernen. Am liebsten Hebamme werden. Sie träumt auch von Kopenhagen.
«Kopenhagen», stöhne ich. «Wie kommt dir das in den Sinn?»
Es ist nicht zu überhören, wie aufgewühlt sie ist, als sie zu sprechen beginnt. Sie will nicht nach Hause, heiraten und ein eigenes Zuhause aufbauen. Kann sich nicht vorstellen, auf dem Land zu leben. Möchte nicht Papa bestimmen lassen, wen sie heiratet.
«Du siehst ja, wie er zu Magnús und Gauja ist», sagt sie und schluckt die Tränen runter. «Oder zu dir und Sveinn?» Sie verstummt, als hätte sie sich verbrannt.
Hitze steigt mir in die Wangen. Ich möchte etwas antworten, bringe aber kein Wort heraus.
«Wir wissen beide, dass Ninna wegen Papa gegangen ist, genau wie Ingi.» Jetzt schweigt sie wieder. Am liebsten würde ich mir die Ohren zuhalten. Habe Papa so unendlich gern und möchte ihn verteidigen, kann es aber nicht. In manchen Momenten möchte ich ihn umarmen, in anderen hasse ich ihn.
Gunnhildur traut sich nicht, mit Papa zu sprechen, und weiß, dass von Mutter keine Hilfe zu erwarten ist. Sie bittet mich um Unterstützung. Denn wenn er auf einen Menschen unter dieser Sonne höre, dann sei ich das.
Jetzt bin ich diejenige, die die Tränen runterschluckt. Als ich Sveinn heiraten wollte, hat Papa nicht auf meine Wünsche gehört. Doch ich umarme sie. Verspreche, zu tun, was ich kann, auch wenn ich noch nicht weiß, wie ich vorgehen soll. Ich bitte sie, nicht heimlich abzuhauen wie einst Ingi. Sie nickt schniefend. Und wieder befällt mich die alte Traurigkeit. Ob wir ihn je wiedersehen werden? Viele Jahre sind vergangen, seit er sich aus dem Staub gemacht hat.
Ich sitze bei Bertel und Maria. Im Winter waren wir allein in der Dunkelheit. Jetzt sind die Abende hell und Leute auf den Straßen. Die Eisschicht auf Marias Brust ist verschwunden, und ihre nackten Zehen sind unter dem Schnee wieder zum Vorschein gekommen. Ich werde die beiden vermissen.
Am Geburtstag von König Christian dem Neunten ist schulfrei, und wir dürfen – als wäre Sonntag – bis acht Uhr schlafen. Auf dem Austurvöllur spielt eine Blaskapelle, und wir eilen hinausauf den Platz. Während sich das Orchester aufstellt, laufen die Zuschauer hin und her, schnupfen Tabak und unterhalten sich. Dann beginnt die Blasmusik, der Lärm prallt wie ein Schlag gegen Bertel und Maria, kein Wort ist mehr zu hören.
Auf der Wiese stoße ich auf Vigfús Bjarnason. Seit dem Weihnachtsball im Zunfthaus habe ich ihn nicht mehr gesehen. Ich lächle ihn freundlich an, verstehe aber wegen des Lärms nicht, was er sagt. Das weinrote dänische Kleid ist zu luftig für einen Apriltag im Freien, obwohl ich ein dickes Tuch um die Schultern habe. Aber ich genieße es, mich darin zu zeigen, und ich glaube, dass auch Vigfús das Kleid würdigt. Ich lächle, gebe ihm die Hand und eile wieder ins Haus.
Einige Tage später höre ich die Rufe der ersten Küstenseeschwalben am Tjörnin und sehe sie von Weitem auf den kleinen Inseln. Ein Glücksgefühl durchströmt mich. Jetzt besteht kein Zweifel mehr. Der Frühling kommt.
Die Prüfungen sind gut
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