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Im Schatten des Vogels

Im Schatten des Vogels

Titel: Im Schatten des Vogels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anika Lüders
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allein sein müsse. Die Kinder beobachten den Ausflug ihres Großvaters vom Hof aus. Fluchend kommt er zurück. Spuckt in alle Richtungen und sagt, dass der Berg unbedeutend sei. Hat trotz allem einen Stein entdeckt, den er mir zeigen möchte. Wir machen uns auf den Weg, nur wir beide. Der Stein ist moosbewachsen, wir setzen uns, lehnen uns an. Ich schließe die Augen und werde ruhig. Bleiben lange dort sitzen.
    Laufen Hand in Hand über die Wiese zurück. Vigfús ist kurz angebunden, Anna brüllt wie am Spieß, die Kühe sind nicht gemolken – und wo ist das Abendessen?
    Stefán ist tüchtig, Katrín auch. Sie packen drinnen und draußen mit an und passen auf ihre jüngeren Geschwister auf. Wenn ich oben am Stein alles um mich herum vergesse, kommen sie mich abwechselnd holen.
    Eines Tages bittet Katrín mich, auf der Orgel zu spielen. Ich schüttle den Kopf. Da schlingt sie ihre Arme um meinen Hals und flüstert:
    «Spiel doch, liebste Mutter. Wir haben ganz aufgehört zu singen, seit wir hergezogen sind.»
    Ich genieße es, ihre warmen Arme zu spüren, und durch den Tränenschleier betrachte ich meine Kinder. Die kleine, dünne Katrín, blond und mit tiefen Grübchen, der große Stefán, schon so erwachsen und Vigfús’ lebendes Abbild. Ingi, der rothaarige Spaßvogel, mein Liebling. Ich konnte durchsetzen, dass er auf den Namen Ingi getauft wurde, und versprach dafür, dass Vigfús den nächsten Namen bestimmen durfte. Undda schläft die kleine Prinzessin Anna, benannt nach meiner Schwiegermutter, die ich nie gesehen habe.
    Was ich niemandem gesagt habe, ist, dass die Kinderschar im nächsten Jahr noch größer wird. Es scheint ein Naturgesetz zu sein, dass man ständig schwanger ist. Trotz der vielen Arbeit ist Vigfús abends nicht so müde wie ich. Oft tue ich so, als würde ich schlafen, wenn er ins Bett kommt. Manchmal stupst er mich an, manchmal nicht.
    Katrín führt mich zur Orgel, und ich setze mich. Das Pedal ist schwergängig, und die Töne sind unsauber. Als ich die Kinder sehe, schießt mir ein alter Gedanke durch den Kopf. Wir wollten das Haus mit Kindern und Gesang füllen. Sveinn – ob er noch am Leben ist?
    Ich fange mit
Am freiesten ist’s in den Bergen
an, und die Kinder stimmen kräftig ein. Voller Eifer lassen sie sich so viele Lieder wie möglich einfallen, als hätten sie Angst davor, dass ich plötzlich aufstehe und gehe.
    Wir singen, bis Prinzessin Anna aufwacht und munter schreit. Da fragt Katrín, ob sie Kaffee machen dürfe, sagt, dass sie das schon allein könne, sie habe oft ihrer Großmutter und Namensvetterin geholfen. Sie ist voller Erwartung. Vigfús will nur am Wochenende Kaffee trinken oder wenn Gäste kommen, doch ich lächle und nicke. Die Geschwister mahlen Bohnen in der Kaffeemühle und gießen auf. Als die Prinzessin satt ist und ihr Bäuerchen gemacht hat, unterhalten wir uns am Kaffeetisch, und ich erzähle Geschichten von mir und meinen Geschwistern. Ingi will mehr von seinem Namensvetter hören. Ich genieße es, zu erzählen, bin in Gedanken wieder daheim in der alten Stallstube, und alles ist so schön.
    Bis Vigfús nach Hause kommt, sitzen wir zusammen und plaudern. Vergessen sind die Kühe. Er ist völlig entgeistert,wirft einen verstohlenen Blick auf die Kaffeekanne, nimmt aber eine Tasse an. Lange ist es her, dass ich abends so gut gelaunt in die Kissen gesunken bin.
    Jedes Jahr ist für kurze Zeit die Wanderschule in unserer Wohnstube untergebracht. Der Lehrer heißt Oddur und wohnt immer dort, wo er unterrichtet. Oddur ist wortgewandt und unterhaltsam, schläft auf dem Diwan in der Wohnstube. Die Kinder von den Höfen ringsum kommen morgens zu Fuß zum Unterricht. Sie haben Proviant dabei, trotzdem bekommen sie mittags heiße Grütze und Schafsblutwurst von mir.
    Es ist so schön, wenn sich der Hof mit Menschen füllt, und ich könnte mir vorstellen, das ganze Jahr über eine Schule im Haus zu haben – wenn es bloß ein bisschen mehr Platz gäbe. Dann könnte ich auch Handarbeit unterrichten. Oddur bittet mich, einmal in der Woche Gesang zu unterrichten, doch schon bald lasse ich die Kinder täglich singen. Und bringe ihnen Lieder bei. Alle machen mit, ob sie die Töne halten oder nicht, singen ein- oder auch zweistimmig, am beliebtesten aber ist das Kanonsingen. Sie machen auch Wettsingen, was immer mit Gelächter und Albereien endet.
    Als Oddur zu anderen Höfen weiterzieht, kommt mir die Hütte leer vor. Vermisse das Kommen und Gehen, die hellen Stimmen

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