Im Schatten des Vogels
sorgt.
Die Kinder begrüßen mich, Ingi hält mich fest umschlungen. Die ersten Tage nach meiner Heimkehr ist er wie mein Schatten.
In Gedanken bin ich ganz bei Papa und versuche, durch die Tage zu kommen. Passe auf, dass ich nichts vergesse. Kochen, melken, putzen, die Kinder hüten, nähen und stricken für Leute aus der Gegend. Die Bestellungen haben sich angehäuft, weiß nicht, wie ich das alles schaffen soll. Es macht mir Spaß. Es ist bloß die Zeit, die fehlt. Nachts schlafe ich schlecht, wache ständig auf und überlege, was noch alles getan werden muss.
Bin schwer geworden, steige aber trotzdem noch den Hang hinauf zum Stein und sitze abends dort. Nehme nichts wahr, genieße es aber, allein zu sein. Bin ja nicht ganz allein, spüre die Tritte des kleinen Wesens. Schiebe die Hand unter Bluse und Tuch und streichle meinen Bauch. Spreche mit ihm und merke, wie es ruhig wird. Manchmal schlafe ich ein. Dann holt Vigfús mich.
Er schimpft nicht mehr, selbst wenn ich mich absondere, für ihn scheint ohnehin klar zu sein, dass mich die ganze Verwöhnerei im elterlichen Haus verdorben hat. Kristbjörg schießt mir in den Sinn, und ich lächle sie an. Versuche, lieb zu Vigfús zu sein und ihn gernzuhaben, habe längst aufgehört, ihn mit Sveinn zu vergleichen. Doch ich erzähle ihm nicht von der Angst. Er würde mich nicht verstehen. Haben wir nicht genug zu brechen und zu beißen, uns und gesunde Kinder? Angst – weshalb?
Der Junge lebte nur vier Tage. Vigfús holte den Pfarrer, der ihn Guðmundur taufte. Vielleicht gab es nie Hoffnung für ihn. Trotzdem habe ich von ganzem Herzen dafür gebetet, dass er leben möge. Auch Vigfús hat das getan. Sein Sarg war winzig klein. Er ist direkt neben Mutter begraben. Gut, sie zusammen zu wissen. Guðmundur geht mir nicht aus dem Sinn. Die Müdigkeit laugt mich aus, und ich bin empfindlich. Beim kleinsten Anlass weine ich los.
Ich habe oft versucht, mir vorzustellen, wie es ist, ein Kind zu verlieren. Bis jetzt hatte ich Glück. Halldóra hat einmal gesagt, dass von allen Verlusten der Verlust eines Kindes der schmerzhafteste sei. Sie war blind wie ein Stein, als sie es mir beschrieb, und wiegte sich im Sitzen hin und her.
Kurz nach der Beerdigung sehe ich Guðmundur in den Wolken. Mutter und Halldóra haben ihn zwischen sich an die Hand genommen, und es durchströmt mich warm. Wenn da mal nicht auch Kristbjörg in der Nähe ist. Ich lächle, und die Angst verschwindet für einen Moment.
Ich versuche, gut gekleidet, gekämmt und zurechtgemacht zu sein, habe aber nur wenig Zeit, um für mich selbst etwas zunähen. Manchmal träume ich von Reykjavík. Dann stehe ich vor Hansens Magasín und sehe mir die Dekoration in den Schaufenstern an, oder ich bin im Laden und befühle die Stoffe. Dann kaufe ich einen Meter nach dem anderen. Auch Spitzen, Seidenbänder und Borten. Schaue verwirrt um mich, wenn ich zu Hause in meinem Bett aufwache.
Eines Morgens habe ich es nicht mehr ausgehalten. Im Traum hatte ich so viel Schönes berührt. Nun wollte ich daraus für die Kinder, Vigfús und mich etwas nähen. Ich setzte mich hin, schrieb meiner Schwester Gunnhildur einen langen Brief und bat sie, Stoffe zu besorgen. Beschrieb ihr, was mir vorschwebte. Umriss Ideen. Bat sie, nicht zu knapsen. Die Bezahlung käme.
Lange Zeit später, als das Paket ankam, konnte ich mich vor Freude kaum zügeln. Gunnhildur hatte von allem reichlich gekauft und gut gewählt. Die Kinder standen verdutzt da und guckten. Ich sagte ihnen, wer was bekommen sollte, und Katrín strahlte so sehr, dass beide Grübchen zum Vorschein kamen. Dann kam Vigfús und sah die Rechnung. Da war der Spaß vorbei. Dabei hatte Gunnhildur einen guten Rabatt bekommen, weil sie in Hansens Magasín eingekauft hatte, wo Þórarinn Verkäufer war.
«Einen guten Rabatt!», sagte Vigfús blass vor Wut. «Ohne mir ein Tönchen davon zu sagen! Was hast du dir gedacht, Weib?»
Ich konnte kaum antworten, hatte an nichts anderes gedacht als den Genuss, zu sehen, wie sich guter Stoff in schöne Kleidung verwandelt. Freude und Glück zu ernten.
«Das tust du nicht noch einmal!», sagte Vigfús rasend.
Die Wut kochte in mir, als ich alles zusammenräumte undin eine Kommodenschublade steckte. Das Verlangen zu nähen war verflogen.
Später rutschte mir diese Geschichte vor Papa heraus, und er bot an, die Rechnung mit Gunnhildur und Þórarinn zu begleichen. Da endlich holte ich den Stoff hervor und machte mich daran, ein Kleid für
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