Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Schatten des Vogels

Im Schatten des Vogels

Titel: Im Schatten des Vogels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anika Lüders
Vom Netzwerk:
und die Gesangsstunden. Die Kinder sagen mir, dass es öde sei, nicht mehr bei uns in die Schule zu gehen – kein Singen und kein Spaß auf dem nächsten Hof. Und viel weniger Platz.
    Das erinnert mich daran, dass die Madam mich auf der Mädchenschule behalten und zur Lehrerin machen wollte. Einst wollte ich auch nach Kopenhagen gehen, das Orgelspiel lernen und dann Lehrerin an Sveinns und meiner Schule werden.Das war in einem früheren Leben. Vielleicht bleibe ich im nächsten Leben unverheiratet und gründe eine Schule! Manchmal träume ich weiter. Dann bin ich wieder nach Hause ins Schloss gezogen. Dort ist genügend Platz, und ich habe den ganzen Winter unten in der Wohnstube eine Schule und im oberen Stock Zimmer für die Kinder mit der weitesten Anreise. Ich unterrichte Gesang, Gedichtelesen und Handarbeit für die Mädchen, Vigfús unterrichtet in der Werkstatt, und Oddur kümmert sich um den Rest. Die Schule hat einen guten Ruf, und jetzt wollen sogar Kinder aus anderen Regionen aufgenommen werden. Wenn ich in meinen Träumen bin, geht es mir gut. Sie machen die Angst kleiner.
    Mutter hat uns verlassen, Halldóra auch. Eine nach der anderen ist gegangen. Einar kam und holte mich. Ich war hochschwanger mit dem fünften Kind, ging aber trotzdem. Vigfús gestattete mir die Reise. Katrín und Stefán wollen fleißig zu Hause mithelfen. Ingi auch. Anna habe ich bei mir.
    Das Schloss war seltsam leer. Mutter war in der Wohnstube aufgebahrt. Ich schloss die Tür, setzte mich, wollte allein mit ihr sein und mich verabschieden. Wollte tapfer und stark sein, weinte aber sofort.
    «Ich hätte dich nicht verlassen sollen, dann wärst du noch bei uns», flüsterte ich und streckte die Hand nach ihr aus. Zog sie zurück, als ich merkte, wie kalt die Berührung war.
    Wo war sie nun? Irrte sie allein herum? Hoffentlich hat mein Bruder Ingi sie in Empfang genommen, und Großvater. Und vielleicht Kristbjörg, Halldóra und der kleine Pálmar …
    Ich beweinte alle, die tot waren. Sah die Sommergardinen, die seit meinem Auszug nicht mehr gegen Wintergardinen ausgetauscht worden waren. Die Uhr ist stehen geblieben, als ichdamals gegangen bin. Warum um alles in der Welt habe ich mich bloß Vigfús’ Dreistigkeit gebeugt? Er hatte mir versprochen, immer hier wohnen zu bleiben. Wenn ich doch die Zeit zurückdrehen könnte. Schaute zu Maria an der Wand. Augenblicklich hörte sie auf, Jesus zu beißen, sah mir in die Augen und sagte, dass sie sich um Mutter kümmern werde. Maria hat noch nie mit mir gesprochen. Vielleicht hat sie es versucht, aber ich habe nicht zugehört. Es war gut, sie zu hören. Ich klammerte mich an Maria, bat sie, sich meiner Mutter anzunehmen.
    Als die Tränen nachließen, befiel mich albtraumhafte Müdigkeit, und ich ging zu Papa.
    «Mein kleiner Engel», flüsterte er, umarmte mich und hielt mich fest. «Wirst du jetzt für immer bei mir bleiben?»
    Ich streichelte ihm sanft über Wange und Kinn. Würde liebend gerne mit den Kindern zu ihm ziehen. Neu anfangen. Doch wo sollte ich anfangen?
    Bis nach der Beerdigung bleibe ich daheim. Kümmere mich, so gut es geht, um Papa. Schlafe in meinem alten Bett, umgeben von Erinnerungen. Werfe einen Blick unter die Dachschräge und ziehe Sveinns Bettkantenbrett hervor. Wische den Staub ab und fahre zärtlich mit den Fingerspitzen über die Schnitzerei. Das Brett ist mir teuer. Doch diesmal breche ich nicht in Tränen aus. Das Brett gehört zu einem Leben, das unendlich weit weg ist. War ich es, die dieses Leben gelebt hat, oder jemand anders?
    Wir backen und bereiten den Leichenschmaus vor. Papa will, dass genug von allem da ist, jetzt soll an nichts gespart werden. Einar leidet. Er kannte keine andere Mutter, hat gesagt, dass er sie nie verlässt – und es auch eingehalten. Ichspüre einen Stich in der Brust und nehme ihn in den Arm. Der hübsche Einar, Magga immer noch so ähnlich.
    Obwohl mir das Gehen schwerfällt, bringe ich Hulda jeden Abend Milch. Und genieße es. Genieße es auch, hinauf zur Schlucht zu laufen, dort zu sitzen und den Gletscher zu betrachten. Immer noch ist Musik im Felsen.
    Nach der Bestattung reitet Vigfús mit Anna und mir nach Hause. Er ist fest entschlossen, gibt nicht nach. Papa ist niedergeschlagen, ich auch. Hätte ihn gerne mitgenommen und ihn bei uns wohnen lassen. Doch ich sage nichts, weiß, dass es nichts nützen würde, es ist kaum Platz und würde sofort Krach geben. Er bleibt bei Einar, der lieb zu ihm ist und gut für ihn

Weitere Kostenlose Bücher