Im Schatten des Vogels
Hause.
Vigfús war mir ständig böse, wahrscheinlich schämte er sich für mich. Ich nahm Þorgerður mit ins Bett und zog die Decke über den Kopf. Die Kinder waren lieb zu mir, vor allem Katrín. Nach ein paar Tagen im Bett kam ich wieder auf die Beine.
Mit jedem Tag fiel es mir schwerer, Bergþóra im Haus zu ertragen. Und ich flehte Vigfús an, sie wegzuschicken. Es bringt nichts, wenn ich die Mägde feuere. Sie gehen nicht. Alles muss über Vigfús laufen, und diesmal blieb er hart. Er bat mich, seine Mägde nicht mehr zu piesacken, ich solle lieber mal versuchen, die Hilfe im Haushalt zu genießen. Zudem sei Bergþóra ein tatkräftiges Mädchen, umgänglich und liebenswürdig.
«Hattet ihr nicht immer Mägde, als du aufgewachsen bist? Ist das denn was Schlimmes?»
Ich sah ihn an, und mir wurde schwindelig. Wenn er wüsste, welche Last sie meiner Mutter immer waren. Vielleicht sah er, was ich dachte, denn er sagte: «Denk nicht, dass ich wie dein Papa bin, meine Liebe. Ich kann ein Mädchen ansehen, ohne es gleich haben zu wollen. Selbst wenn es schön ist.» Dann stand er auf und ging.
Am Tag darauf saß ich in der Wohnstube und nähte ein Männerhemd. Da kam Vigfús zu mir und wollte reden. Ich sah ihn erstaunt an. Wollte ihn nicht vom Reden abhalten, steckte aber weiter das Hemd zusammen.
«Ich habe mir überlegt, mit dir zu einem Arzt zu gehen und etwas gegen deine Krankheit zu unternehmen, meine Liebe», sagte er.
Ich sah ihn verdutzt an.
«Sieh mal», fing er an, setzte sich und nahm mir das Hemd weg. Dann streichelte er über meine Hände. Wann hatte er das zuletzt getan? Ich versuchte, mich daran zu erinnern, sah auf seine Hände, und plötzlich kamen mir Sveinns Musikerfinger in den Sinn. Aus der Ferne hörte ich Vigfús über den Arzt reden. Viele sprächen gut über ihn. Er wollte, dass wir es versuchten.
«Aber er ist in einer ganz anderen Gegend», stammelte ich und starrte auf die dünnen Finger.
«Das weiß ich, und du wirst eine Weile bei ihm bleiben.»
«Im Westbezirk?»
«Ja», sagte Vigfús.
«Und meine Kinder?»
«Sie werden bei mir sein, bei mir und Bergþóra. Dann kommst du wieder nach Hause, und es geht dir viel besser.» Jetzt lächelte er und streichelte immer noch über meine Hände.
Mit einem Mal hatte ich alles klar vor Augen. Er wollte mich in die Ferne schicken, mich loswerden, um dann nach Lust und Laune mit Bergþóra zusammen sein zu können. Ich sprang auf.
«Lass mir das nie wieder zu Ohren kommen, mein Lieber», sagte ich und raste nach oben. Dort warf ich mich aufs Bett und weinte, als würde mein Herz zerspringen.
Die nächsten Tage über machte ich unbeirrt weiter. Scherte mich nicht um Vigfús und schenkte den Kindern umso mehrAufmerksamkeit. Ich holte den Baum hervor. Vor vielen Jahren hatte Vigfús einen Weihnachtsbaum gezimmert und ihn grün angemalt. Auf meinen Wunsch hin. Der Weihnachtsbaum in der Wohnstube der Madam im Mädchenschulwinter war mir nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Da wir schon keinen richtigen Baum hatten, verkleidete ich Vigfús’ Baum einfach mit Moos und Papier in verschiedenen Farben. Dann behängten wir ihn mit selbst gebasteltem Schmuck. Doch ich träumte von einer roten Glaskugel wie die, in der mir einst Kristbjörg erschienen war. Es war immer schön, wenn wir den Baum holten und anfingen, ihn zurechtzumachen. Dann war Weihnachten.
In der Abenddämmerung stehe ich am Fenster und sehe nach Osten. Die Tage werden schon länger, und bald kommt der Frühling. Ich schaue zum ausdruckslosen Gletscher und weiß, dass meine Kinder dort sind. Sehe sie vor mir, wie sie im Türspalt stehen und mir hinterhergucken. Mich anstarren. Können ihre seltsame Mutter nicht verstehen, die sich nie wie andere Leute benehmen kann. Wieso ist sie so? Anders als alle anderen Mütter. Dann verschwimmt alles, und ich erkenne nichts mehr durch den Nebel.
Ich gab mir die größte Mühe, und über die Weihnachtstage hinaus lief das Leben zu Hause gut. Vigfús sollte sehen, dass ich nicht zum Arzt musste. Und er sollte auch sehen, dass wir uns die Magd sparen konnten. Täglich war ich auf den Beinen, und die kleine Þorgerður wuchs kräftig. Immer noch hatte ich Milch für sie. Sie erinnerte mich an Katrín, an das halbe Portiönchen, das sie einmal war. Jón war ein aufgeweckter und unterhaltsamer Bursche geworden und unsere Kinderschar groß und schön.
An den Festtagen will Vigfús immer das Beste haben, was da ist. Dann gibt es Kaffee, Fleisch
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