Im Schatten des Vogels
glauben. Wenn ich es abstreite, ist Papa auch gar nicht tot. Ich gehe zu ihm nach Hause und bleibe für immer bei ihm. Ziehe mit den Kindern um, und wir wohnen alle zusammen. Im Schloss, wie ich es ihm und Mutter versprochen habe. Alles wird wie in alten Zeiten. Und ich gehe niemals fort.
Wir sitzen bis in den Abend hinein zusammen. Einar hält mich im Arm, und ich weine, bis alle Tränen getrocknet sind.
Das Schloss ist klaffend leer. Ich sitze lange auf dem Stuhl im Arbeitszimmer und sehe mir die homöopathischen Mittel an. Papa wollte mir alles beibringen, doch ich habe nicht zugehört. Ich schaue mir die Fläschchen an und fahre mit der Hand über die Bücher. Besuche Hulda, sitze bei ihr, höre sie aber weder stöhnen noch husten. Laufe hinauf zur Schlucht amWasserfall, blicke über den Hof und zum Gletscher. Der Fels ist schwarz, die Musik verstummt. Sehe Papa vor mir, wohin ich auch gucke.
Aus der Küche kam all das Gute. Dort war das Feuer, das eine Runde nach der anderen tanzte. Unwillkürlich fing ich an, mich in seinem Takt zu bewegen. Bekam ein heißes Gesicht, und ehe ich mich’s versah, kam ein blauer Junge aus der Flamme und streckte die Hand aus. Da senkte ich schnell den Blick, und er verschwand. Ich nannte ihn den Blauen. Wagte nicht, ihm in die Augen zu sehen, obwohl ich das Verlangen spürte, es zu tun. Lag im Dunkeln, dachte über ihn nach und war überall kochend heiß. Träumte davon, dass wir uns später in die Augen sähen.
Als ich Papa vom blauen Jungen erzählte, wurde er ernst. Er meinte, dass mir der Blaue hier und dort im Leben begegnen würde und ich mich gut in Acht nehmen müsse.
Stefán und Katrín kommen, um mich zu holen. Ein Glücksgefühl durchströmt mich, als Katrín ihre Arme um mich schlingt. Auch Stefán umarmt mich, ungewöhnlich warm. Wir eilen nach Hause zu den anderen. Ingi und Anna sind ausgelassen und kommen uns lachend entgegen. Jón ist verschüchtert, Þorgerður brüllt wie am Spieß, als sie mich sieht. Vigfús nimmt mich in den Arm und drückt mich lange. Ich merke, dass er sich danach sehnt, dass alles in Ordnung ist, er setzt Kaffee auf und macht mir alles recht. Als ich ihn inmitten der Kinderschar sehe, habe auch ich ihn gern. Und ich bin gerührt, zu sehen, wie lieb er zu den Kindern ist. Aber sein dunkles Haar ist ziemlich grau geworden.
Bergþóra ist weg, und in diesen Tagen verliert niemand ein Wort über eine Magd. Wir helfen uns gegenseitig, sind rücksichtsvollund freundlich zueinander. Ich versuche, mir die Arbeit nicht über den Kopf wachsen zu lassen, und nehme keine Näharbeiten an. Doch die Sehnsucht nach Papa ist erdrückend. Wenn ich wach bin, kann ich sie kontrollieren, nicht aber im Traum, sodass ich morgens völlig erschöpft bin. Und dann, eines Morgens im frühen Sommer, weigere ich mich, aufzuwachen, bleibe im Vergangenen. Stehe nicht auf.
Vigfús versucht, mich zum Anziehen zu bewegen. Zu dieser Jahreszeit bekommt er keine Magd, wie sehr er es auch möchte. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als meine Sache gut zu machen, komme aber nicht auf die Beine. Katrín sagt, dass sie allein zurechtkomme und keine Hilfe im Haushalt brauche. Ich höre sie im Erdgeschoss, wenn sie mit Prinzessin Anna schimpft und sie zur Arbeit treibt. Die Jungs sind mit Vigfús draußen bei der Hofarbeit.
Ich schleppe mich aus dem Bett und versuche, mich nützlich zu machen. Anna kämmt mich und flicht mir die Haare. Du lieber Himmel – für gewöhnlich komme ich nicht ungekämmt nach unten! Bin ich schon so armselig? Dann bekomme ich eine heiße Tasse Kaffee – und das mitten in der Woche. Katrín widersetzt sich lächelnd ihrem Vater. Ich lächle zurück und trinke. Dann nehme ich eine Nadel, summe und fange an, die Socken zu stopfen, die überall herumliegen, nicke aber mitten in der Arbeit ein und schlafe wie ein Stein.
Die ganze Zeit, als Mutter beim Arzt war, hast du dich gefreut, sie wieder zu Hause zu haben. Die schöne Mutter. Alles ist so trostlos ohne sie. Du hast dich bemüht, fleißig zu sein. Hattest es ja auch versprochen, hast die Kühe gemolken, auf die Kinder aufgepasst und die Socken gestopft, doch Bergþóra wollte immer,dass du noch mehr tust, also hast du dich einfach nicht mehr so beeilt.
«Katrín, willst du nicht abwaschen? Katrín, wo bist du, Mädchen? Trödelst du schon wieder?»
Stefán und Ingi haben auch geholfen, doch den beiden hat sie nicht annähernd so viel aufgetragen. Und mit der Prinzessin, die immer nur tut,
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