Im Schatten des Vogels
es so aber nicht weitergehe und er das entscheiden werde. Ich starrte ihn an, stand auf und wollte hinaus. Hinauf zum Stein oder zu Papa, doch er ließ mich nicht gehen. Sagte, dass ich nun im Haus bleiben müsse, bis wir aufbrächen. Er wolle mich begleiten.
«Vigfús Bjarnason, ich gehe absolut nirgendwo mit dir hin», sagte ich und verstand die Bestimmtheit nicht, die über mich gekommen war. Da bemerkte ich Stefán und Katrín, diehereingekommen waren, ohne dass ich sie wahrgenommen hatte.
«Ich kann dich begleiten, wenn du willst», sagte Stefán leise.
«Du wirst nicht so weit über den Gletscher reisen, Liebling», antwortete Vigfús scharf.
«Und ich werde fleißig sein und helfen, solange du weg bist», sagte Katrín genauso leise wie ihr Bruder.
Ich starrte sie an. Meine Kinder – hatten auch sie sich gegen mich verschworen? Das hätte ich nicht gedacht. Da kam Katrín auf mich zu und umarmte mich.
«Mutter, ich freue mich so darauf, wenn du zurückkommst und es dir besser geht», schluchzte sie. «Dann wird alles wieder gut.»
Ich zitterte vor Rührung und genoss es, die dünnen Ärmchen um mich herum zu spüren. Da fragte ich mich, wie ich mich wohl für sie anfühlte. Erinnerte mich an den schweren Duft, der von Mutter ausging, und die Sicherheit. Katrín wird mich wohl kaum mit Sicherheit in Verbindung bringen.
Stefán begleitete mich auf der ersten Wegstrecke. Mein Bruder Einar wollte mich dann über den Gletscher bringen. Ich setzte mich an Papas Bett, und wir redeten lange. Es war, als wäre er geschrumpft. Seine Hand war das Einzige, was an den alten Papa erinnerte. Sie war kräftig und warm. Er fragte nach seinem kleinen Namensvetter und lächelte selig, als ich erzählte, wie tüchtig er sei. Da zeigte sich der alte Glanz in seinen Augen, die fast nichts mehr sehen konnten. Dann sagte er, dass er Stefán bei der Organistenausbildung unterstützen werde. Ich umarmte ihn und versprach, bald wiederzukommen.
«Wirst du dann immer bei mir bleiben?», fragte Papa unddrückte mich fest. Ich nickte. War den Tränen nahe und brachte kein Wort heraus.
Nachdem ich mit Einar in Richtung Gletscher aufgebrochen war, fiel mir schlagartig ein, dass Papa mein Nicken nicht gesehen hatte.
Der Arzt spielt Orgel, seine Frau auch. Sie bieten mir an, das Instrument zu benutzen, und bitten mich ab und an, zu spielen. An der Orgel nehmen Schmerz und Trauer ab. Wie durch Nebel sehe ich die kleinen Gesichter. Sitze lange am Instrument, spiele und träume vor mich hin.
Eines Tages hat die Madam Schwierigkeiten mit einem Kleid, das sie gerade näht. Sie fragt mich um Rat, und ehe ich mich’s versehe, sitze ich an der Maschine, habe das Kleid fertig und angefangen, ein Männerhemd zu nähen. Es ist, als würde mir alles zufliegen, und manchmal lache ich so herzlich, dass sich die Grübchen blicken lassen. Ich arbeite auch an der Strickmaschine. Der Arzt ist zufrieden mit den Fortschritten, sagt, dass ich bald nach Hause könne – doch die Madam möchte mich nicht missen!
Das Essen ist gut – alles, bis auf den Sud aus Isländisch Moos. Hier bekommen wir selten Kaffee, was ich vermisse. Vor einigen Tagen habe ich dem Arzt von Sveinn erzählt. Ich wollte das nicht, aber dann ist es einfach passiert. Seitdem haben wir fast täglich über Sveinn gesprochen, doch ich nenne nicht seinen Namen.
An einem freundlichen und schönen Tag taucht plötzlich Einar mit dem Arzt im Türspalt auf. Ich falle ihm um den Hals, leichtfüßig wie in alten Zeiten.
«Bist du gekommen, um mich abzuholen?», rufe ich, drückeund küsse ihn. Lächle und lache. Auch Einar lächelt. Er findet, dass ich gut aussehe, und nimmt mich fest in den Arm. Vermutlich ist es die Anwesenheit des Arztes, die stört, oder etwas in Einars Augen. Sein Lächeln ist nicht so strahlend wie sonst. Er lässt mich Platz nehmen und hält mich fest umschlungen. Dann sagt er: «Engelchen, unser Papa ist gestorben.»
Ich muss Einar nicht zuhören, weil er überhaupt nicht hier ist. Das ist bloß ein Traum, und ich muss schlecht gelegen haben, dass ich solch einen Albtraum habe.
«Kurz nachdem du fort warst, ist er gestorben, und eine Woche später wurde er begraben.»
Ich sehe ihn wie von ferne. Was für ein Mensch ist das, der sich für Einar ausgibt? Jetzt nimmt er mich fest in den Arm und sieht mir in die Augen.
«Engel, hast du mich gehört? Unser Papa ist gestorben.»
Ich schrecke auf. Das ist Einar, und ich bin wach. Trotzdem will ich ihm nicht
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