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Im Schatten des Vogels

Im Schatten des Vogels

Titel: Im Schatten des Vogels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anika Lüders
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und frisch gebackenes Fladenbrot, Weihnachtskuchen und Rosinengrütze. Ich versuchte, den Gedanken wegzuschieben, wie langweilig alles nach Weihnachten wird, wenn der graue Alltag wieder einkehrt, und genoss es, bei den Kindern zu sein.
    Wir sangen viel, manchmal spielte ich, meist aber Stefán. Er ist sehr emsig, und eines Tages erzählte er seinem Vater, dass er davon träume, eine Ausbildung zum Organisten zu machen. Ich hörte heraus, dass Vigfús es für unangebracht hielt, dass ein Mann auf diese Weise seinen Lebensunterhalt verdient. Nebenbei könne er gerne auf der Orgel klimpern, aber nicht ausschließlich. Schlug einen heiteren Ton an und sagte, dass er ihn schon als Tischler vor sich gesehen habe. Dann würde er natürlich den Betrieb übernehmen.
    Stefán wurde blass, schüttelte den Kopf und schwieg. Ich sah meinen Bruder Ingi leibhaftig vor mir und wurde von Furcht ergriffen. Ich versuchte, einen Blick von Stefán zu erhaschen. Ihm zu sagen, dass er in mir eine Verbündete habe. Doch er schaute nur auf den Boden. Womöglich konnte ich ihm auch keine Hilfe sein. Doch ich beschloss, Gunnhildur zu schreiben und sie zu bitten, sich Stefáns anzunehmen, wenn er nach Reykjavík käme. Und wenn Vigfús die Ausbildung nicht bezahlen will, dann wird Papa es tun, dachte ich bei mir.
    «Ich möchte den Betrieb übernehmen», sagte Katrín in die Stille hinein. Alle sahen sie an, und Ingi lachte laut los.
    «Nein, ich werde das tun!» Ehe man sich’s versah, lagen sich die Geschwister in den Haaren. Ingi behauptete, dass Katrín überhaupt nicht wisse, wie man einen Betrieb führte. Das würde schnell in einem Elendsbetrieb enden. Sie gab zurück, dass ihn kein Mädchen heiraten wolle – so schlaksig undzu allem Übel auch noch rothaarig. Schließlich einigten sie sich darauf, gemeinsam auf dem Hof zu leben. Und Prinzessin Anna wollte bei ihnen sein.
    «Ich freue mich schon darauf, bei euch meinen Lebensabend zu verbringen», sagte ich und war auf einmal heiter. Stefán war unruhig, das sah ich und beschloss, nicht zu vergessen, meiner Schwester zu schreiben. Was das Schreiben angeht, war sie viel fleißiger als ich und hatte ohnehin noch so manchen Brief bei mir gut.
    Nach Weihnachten gingen Vigfús und Stefán auf Fischfang, brachen früh am Morgen auf und kamen spät zurück. Ingi wollte mit, durfte aber nicht – unkonfirmiert. Zudem besuchte er gerade auch die Wanderschule.
    Die Weihnachtszeit strahlte noch in der Erinnerung, verschwand dann aber in der Dunkelheit, und die Angst krallte sich wieder an mir fest. Ich schloss die Gardinen, zog die Decke über den Kopf und konnte mich nicht bewegen. Das Rauschen im Kopf war das Einzige, was ich hörte.
    Der Arzt achtet darauf, dass ich meine Medikamente nehme. Jetzt kennen wir uns langsam ein wenig besser, und das Reden fällt mir leichter. Ich erzähle ihm von meinen Freunden in den Wolken über dem Gletscher, von Papa und Mutter, vom fliegenden Vogel und der Sonne, die einst am Himmel lachte. Erzähle ihm von Hulda, Kristbjörg und den Kühen unter der alten Stallstube. Lächle vor lauter Freude übers ganze Gesicht.
    Dann sprechen wir über die Angst, die Schwäche, den erdrückenden Vogel, über die Platzangst und die Mägde, über meinen Bruder Ingi und die Trauer über das, was war, dieSehnsucht nach dem, was nie sein wird. Doch ich erzähle ihm nicht von Sveinn.
    Natürlich hatte Bergþóra viel Arbeit mit dem Haushalt und den Kindern, als ich Tag für Tag im Bett lag. Sie beschwerte sich bei Vigfús, der mich zum Aufstehen bewegen wollte. Ich versuchte es auch, konnte aber kaum die Beine bewegen, und alles wuchs mir über den Kopf. Setzte mich am liebsten an die Orgel und spielte oder sang mit den Kindern. Dann wurde Bergþóra noch wütender, bewarf mich mit zerschlissenen Kleidern, die ausgebessert werden mussten, und machte sich lustig über mich – die Schneiderin! Schob mir alles in die Schuhe, knallte Türen und keifte herum.
    Eines Abends verkündete Bergþóra, dass sie gehe. Vigfús drängte sie, ihre Dienstzeit über noch zu bleiben, bat sie, ihn und die Kinder nicht im Stich zu lassen. Dann setzte er sich mit dem Arzt in Verbindung, ohne mich mitreden zu lassen.
    Im Einmánuður, dem letzten Wintermonat, bekam er Nachricht, dass ich kommen könne. Gleich am Abend sagte er mir, dass wir zum Arzt gehen würden. Ich weigerte mich strikt. Hatte ich ihm nicht verboten, davon zu reden? Hatte er das vergessen?
    Er sagte, dass nichts vergessen sei,

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