Im Schatten des Vogels
tief in der Heuernte, alle helfen mit. Katrín und Anna harken fleißig. Manchmal geselle ich mich dazu. Es macht Spaß, mit den anderen draußen zu sein. Die Einsamkeit ödet mich an. Wenn ich müde werde, lege ich mich einfach hin und schlafe im frisch geschnittenen Grün. Schön, im duftenden Gras aufzuwachen.
«Jetzt müsste Stefán bei uns sein», sage ich eines Tages, als wir eine Pause machen und etwas trinken.
«Kann der denn überhaupt noch arbeiten?» Ingi nimmt einen Schluck Kaffee. «Sitzt doch nur in Kirchen und orgelt vor sich hin!» Er lacht, bis er keine Luft mehr bekommt.
«Er kann Norwegisch sprechen», sagt Þorgerður, und ihre Bewunderung ist nicht zu überhören. «Er hat gesagt, dass ich zu ihm kommen kann, wenn ich groß bin.»
«Ich hoffe bloß, dass er wieder nach Hause kommt.» Plötzlich packt mich die Furcht. Er darf nicht dort draußen in Norwegen heiraten.
«Bleib mal ganz ruhig, Weib. Eines schönen Tages wird er auftauchen. Vertrau mir, dann hat er genug von all dem», sagt Vigfús und streichelt mir über die Hand. Meine Güte, wie sehr Vigfús doch abgebaut hat.
Meine Katrín wirkt ein wenig trübselig, geradezu trotzig. Ob sie in die Ferne möchte? Vielleicht sollte ich versuchen, Gunnhildur zu schreiben und sie zu bitten, Katrín einen Winter lang in Reykjavík zu beherbergen? Bin nicht sicher, ob Vigfús sie zu Hause entbehren kann, aber man könnte es versuchen. Ich suche ein Blatt Papier und beginne, etwas darauf zu kritzeln. Es ist lange her, dass ich einen Brief geschrieben habe. Wann eigentlich zuletzt?
Meist sind die großen Kinder bei der Heuernte, und Þorgerður ist bei mir. Wir kommen gut miteinander aus. Jón ist auch bei uns, doch er ist schon jetzt ein tüchtiger Bauer und will lieber bei den anderen sein.
Bei gutem Wetter sitzen wir draußen, stricken und reden. Vigfús baut eine schöne Bank und stellt sie an der Südseite vors Haus. Streicht sie sogar weiß. Ich nehme ein dickes Kissen mit und genieße es, draußen zu sitzen.
Der Gletscher ist weit weg, und es fällt mir schwer, in den Wolken darüber jemanden zu entdecken. Sage zu Þorgerður, dass wir später die Pferde nehmen und näher heranreiten sollten. Sie lauscht meinen Geschichten mit offenem Mund. Ich darf bloß nie etwas Trauriges erwähnen.
Als wir so dasitzen, sehen wir die Kinder von den anderen Höfen. Ich würde mich gerne mit ihnen unterhalten und rufe sie, doch die Kinder verziehen sich hastig in ihre Häuser. Meine Güte, wie verklemmt die sind!
Þorgerður sagt, dass ich sie in Ruhe lassen solle, sie dürften ohnehin nicht mit uns sprechen. Ich frage nach, verstehe nichts.
«Mütterchen, so viele fürchten sich vor dir», sagt sie und sieht mich mit aller Offenheit an. Mir wird ganz anders.
«Habe ich ihnen etwas getan?»
«Nein, das glaube ich nicht.»
«Aber warum fürchten sie sich dann?»
«Du bist ziemlich laut bei deinen Anfällen. Und machst so viel Trubel. Keiner weiß, was du als Nächstes anstellst, und deswegen dürfen die Kinder nicht herkommen. Aber sie sind auch gar nicht so lustig», sagt sie noch genauso offen, und zeigt in die Luft. «Siehst du die Wolke da? Ist das vielleicht Kristbjörg? Sie sieht so lustig aus!»
Ich konzentriere mich auf die Wolken, suche sie ab, entdecke aber kein Wesen darin. Kann nicht vergessen, was Þorgerður gesagt hat.
In diesen Sommertagen sticke ich Blumenmuster. Ich habe weißen Leinenstoff und suche alle Stickgarne zusammen, die ich finden kann, fest entschlossen, ein hübsches Altartuch für unsere Kirche zu besticken. Es ist lange her, dass ich zuletzt in der Kirche war, aber wenn ich mich recht erinnere, war das Tuch auf dem Altar ziemlich verschlissen. Þorgerður sitzt geduldig bei mir und beobachtet gespannt die Blumen, die auf dem Tuch entstehen. Die Farben wählen wir gemeinsam aus, und sie darf sich dann mit den Resten abmühen. Wir summen, die Sonne scheint, und der Sommer ist uns gnädig.
«Mutter, kannst du nicht einfach immer so sein?», fragt Þorgerður eines Tages und lächelt mich an. Wie so oft sitzen wir draußen in der Sonne.
«Was meinst du damit, Liebes?»
«So wie andere Leute. Wir haben jetzt solch einen Spaß zusammen», sagt sie und seufzt vor Glück.
Ich sehe sie an. Ihr Gesicht ist schmal, fast wie das eines Vogels. Auch die Hände, die ständig in Bewegung sind. Es fällt ihr schwer, still zu sitzen.
«Sieh mal, möchtest du hierfür die rote Farbe nehmen?», frage ich. «Das könnte eine
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