Im Schatten des Vogels
Gelegenheit stimmen lassen. Ich falle ihm ins Wort: «Und es fehlt eine richtige Glaskuppel oben auf der Kirche. In Rom würde sie erbärmlich wirken.»
«Ja, findest du?», sagt er bloß und lädt mich auf einen Schluck Kaffee ein.
Ich schließe die Orgel und gehe mit ihm ins Haus. Das Desinteresse dieses Mannes ist wirklich unglaublich.
Anna kommt und holt mich. Ich bin auf dem Weg zum Handelsplatz und will nicht nach Hause, doch sie schlägt vor, dass ich später dorthin gehe, da nun schon Abend sei. Ich bin einverstanden. Der Pfarrer und seine Frau stehen auf dem Hof und winken uns. Die Arme hat ein schlecht genähtes, hässliches Kleid an. Diese Farbe steht ihr überhaupt nicht, doch ich halte mich zurück und sage es ihr nicht.
Faxi und ich haben ein schönes Tempo erreicht, sausen in fliegendem Ritt voran. Vielleicht hätte ich mich ein bisschen besser anziehen sollen, das warme Schultertuch greifen, doch ichwollte bloß schnell loskommen. Wollte nicht, dass Vigfús sich aufbläst und mir wieder einmal den Fuß in den Weg stellt. Der Wind saust in den Ohren, und jetzt nieselt es auch noch von oben. Dabei sah das Wetter am Morgen so gut aus. Vielleicht hätte ich auf einen besseren Tag warten sollen, doch man weiß nie, wann diese Tage kommen.
Schon lange will ich zum Hornafjord. Ich brauche so vieles. Reite selbst zum Handelsplatz und wähle aus. Lasse nicht Vigfús die Dinge für mich besorgen. Ist bei allem so knauserig. Immer. Ganz anders als Papa, wenn der früher vom Handelsplatz zurückkam. Tagelang freuten wir uns darauf, zu sehen, was er wohl mitbringen würde. Er hat immer mehr gekauft als das, worum wir ihn gebeten hatten.
Vielleicht nehme ich das Schiff und fahre einfach nach Reykjavík zu Gunnhildur. Kaufe ein und bleibe eine Weile dort. Ich bin müde, habe in letzter Zeit viel gearbeitet und wenig Schlaf gefunden. Vigfús hat jetzt ständig ein Auge auf mich, er rechnet damit, dass ich etwas anstelle. Dadurch bin ich ganz angespannt und schlafe noch weniger.
Müsste ich nicht langsam den Fluss erreichen? Habe ein wenig Angst davor, tue es aber trotzdem. Werde es allein und aus eigener Kraft ans andere Ufer schaffen müssen. Da vorn ist ein Hof. Sollte ich einen Abstecher machen und mich aufwärmen, bevor ich weiterreite? Vielleicht einen Schluck Kaffee trinken und ein wenig singen? Nein, Vigfús ist mir ganz sicher auf den Fersen. Doch über den Fluss wird er wohl kaum gehen, glaubt bestimmt nicht, dass ich mich so weit vorwage. Das werde ich ihm schon noch zeigen!
Auf dem Hof würden sie natürlich sofort bemerken, dass ich keine Reisekleidung trage. Könnten versuchen, mich festzuhalten. Aber ich trickse sie alle aus! Kommt da nicht jemandhinter mir her? Drehe mich nicht um, will keine Zeit verlieren.
«Mutter!»
Das Wort zerschneidet die Luft, wieder und wieder. Habe ich mich verhört? Nein, da ist es wieder, diesmal noch näher: «Mutter, warte! Warte auf mich!»
Ich höre nicht heraus, wer es ist, denn nun bin ich am Fluss angelangt. Schlammbraun tost er vorbei, scheußlich und laut! Mir wird ganz anders, Faxi schnaubt und bleibt ruckartig stehen. Um ein Haar wäre ich runtergefallen. Er ist klitschnass vom Rennen. Ich streichle und beruhige ihn, lasse den Fluss aber nicht aus den Augen. Wo kann man ihn am besten durchqueren? Reite am Fluss entlang. Der Flusslauf ist schmal, und es gibt heftige Stromschnellen. Habe ich überhaupt eine Chance?
Dann hat er mich eingeholt. Ich spüre es. Streckt mir vorsichtig die Hand entgegen, die Stimme zittert: «Mütterchen!»
Es ist mein Liebling, das weiß ich. Er klammert sich an mich und hilft mir vom Pferderücken. Ich sacke zusammen, kann nicht auf den Füßen stehen, doch er hält und streichelt mich beruhigend.
«Will zum Hornafjord», sage ich. «Brauche so vieles …»
«Schon gut», sagt er. «Wir werden zusammen zum Hornafjord reiten, aber nicht heute. Der Fluss schwillt im Moment an, aber wenn du mit mir kommen willst, verspreche ich es. Später!» Er sieht mir in die Augen, und ich weiß, dass ich mich auf ihn verlassen kann. Zittere und schlottere vom Scheitel bis zur Fußsohle. Eiskalt.
Wir kehren auf dem nächsten Hof ein. Bekommen heißen Kaffee und Leihklamotten. Alle sind lieb zu mir, und langsam werden meine kalten Glieder warm. Doch ich wage nicht, dieAugen zu schließen, sehe immer noch die hellbraune Flut vorbeirasen und höre ihr Tosen. Und das Zittern in mir hält an. Erst viel später hört es auf. Da liege ich
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