Im Schatten des Vogels
komplett vergangen war.
Ingi sagte, dass ich die beste Mutter der Welt sei und nichts Dummes denken dürfe. Die Mädchen waren lieb zu mir und versuchten, mich zu beruhigen. Katrín sagte mir mehrmals am Tag, wie schick und schön ich sei. Anna stimmte mit ein und erinnerte mich ans Haarekämmen, wenn ich es vergessen hatte. Jón war schweigsam, drückte mich aber fest. Die Mädchen zählten verschiedenste Männer auf, die sich in der Nähe des Hofes herumgetrieben hatten, und stritten ab, dass das Kind von ihrem Vater sei. Wie viel sie wohl davon wussten? So was kann schnell passieren.
Das Mädchen verrichtete still seine Arbeit und war lieb zu allen, besonders zu mir, doch das änderte nichts an der Tatsache, dass ich nicht länger mit ihr unter einem Dach sein konnte. Nicht mit ihr sprechen konnte. Das Gefühl hatte, zu ersticken.
Du hattest dich so darauf gefreut, Pétur Jakob gute Neuigkeiten über Mutter zu schreiben. Dachtest, dass jetzt alles nur noch angenehm sein würde. Sie war glücklich und schön, als sie und Einar ankamen, aber dann hat sie sich komplett gewandelt. Unglaublich, wie sehr man sich in so kurzer Zeit verändern kann.
Pétur Jakob wartet sicherlich auf einen Brief, aber du kannst ihm absolut nichts schreiben. Was sollst du auch sagen? Dass es Mutter nach der Rückkehr einige Tage lang gut ging, es jetzt aber nur noch halb so gut ist? Nein, dann kannst du es gleich sein lassen. Aber er hat sich darauf verlassen, dass du schreibst.
Du beschließt, noch ein paar Tage abzuwarten. Vielleicht kommt es noch in Ordnung …
Ich holte die Nähmaschine hervor und fing an. Wollte versuchen, mich in die Näharbeit zu stürzen. Drapierte all die schönen Stoffbahnen um mich herum. Doch dann gewann die Müdigkeit die Oberhand, und ich wusste, wohin das führen würde. Die Medikamente waren durcheinandergeraten, aber ich war zu stolz, Vigfús um Hilfe zu bitten. Als Katrín sich der Sache annahm, hatte ich bereits ein Fläschchen zerbrochen und den Inhalt der Pillengläser vermischt.
Eines Abends ging es mir besonders schlecht, und die Angst hielt mich in ihrem Höllengriff. Ich saß an der Nähmaschine, brachte aber nichts zustande, alles war mir über den Kopf gewachsen. Wusste nicht mehr, wie ich früher an die Sache herangegangen war. Dabei hatte ich doch mein ganzes Leben lang so viel genäht.
Ich griff in die Orgeltasten, doch das war falsch. Ich musste an das Klavier in der ersten Schiffsklasse und an den dänischenKapitän denken. Es schien so lange her zu sein. Das war bestimmt nicht ich, die auf dem Schiff gewesen ist, sondern eine andere Frau.
Als Vigfús aus dem Stall kam, verkündete ich ihm, dass er sich nun zwischen mir und dem Mädchen entscheiden müsse. Wenn sie nicht gehe, würde ich das tun. Er dachte nicht lange nach, antwortete seelenruhig: «Dann ist es wohl am besten, wenn du gehst, meine Liebe. Alles lief so blendend, bis du zurückgekommen bist.» Schwang in seiner Stimme etwa Erleichterung mit?
Mit Mühe gelang es mir, aufzustehen. Sah in einen tiefen Abgrund. Kroch die Treppe hinauf und legte mich ins Bett. Sang aus voller Kehle, um das Brummen im Kopf nicht hören zu müssen.
Ich erkenne keinen Unterschied zwischen Tag und Nacht. Öffne bloß die Augen, um nach dem Topf unterm Bett zu tasten. Neulich war er voll. Es ist angenehm, die Wärme an den Füßen zu spüren, wenn es überschwappt. Doch der Uringeruch ist stechend, und ich lege mich schnell wieder ins Bett. Höre undeutlich, dass jemand schimpft. Kann nicht antworten, der Vogel liegt auf mir, und das Brummen im Kopf macht mich verrückt.
Lange konnte ich noch das gute Gefühl wachrufen, das meine Brust erfüllt hatte, als ich in Reykjavík war. Wenn ich tief genug unter die Decke kroch, fand ich es und klammerte mich daran. Jetzt ist es verschwunden.
Am ehesten stehe ich nachts auf, taste mich die Treppe hinunter und sitze allein in der Wohnstube. Manchmal kommt Vigfús hinter mir her und versucht, mich wieder ins Bett zukriegen. Sagt, dass ich auskühlen, eine Lungenentzündung bekommen und sterben würde. Ich antworte ihm nicht. Dann bringt er eine Decke und wickelt sie um mich. Ich möchte ihn anlächeln, kann aber nicht.
Es kommt auch vor, dass ich mich an die Orgel setze. Spiele und singe. Versuche, das Brummen in den Ohren zu übertönen. Dann ist Vigfús ungehalten. Sagt, dass es mitten in der Nacht sei und er Ruhe zum Schlafen haben wolle. Schließt das Instrument. Ich öffne es wieder. Papa hat
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