Im Schatten von Montmartre
Bettkante.
Entgegen meiner Befürchtung blieb sie dort steif und starr sitzen. Ihre Augen
waren immer noch blicklos auf einen nebulösen Punkt in der Ferne gerichtet. Ich
zog ihr die Kleider über das Negligé, wobei sie ein paar schwache Seufzer
ausstieß. Das waren die ersten Anzeichen dafür, daß sie so langsam wieder zu
sich kam. Rock, Bluse, Schuhe. Fertig! Das genügte. Den Rest ihrer Kleidung
stopfte ich in einen der Kopfkissenbezüge. Eine verdammte Scheißarbeit. Ich
wischte mir den Schweiß von der Stirn. Mir war ganz heiß geworden. Apropos
heiß: Simone trug nicht gerade viel am Leib. Ein Kleidungsstück mehr würde ihr
bestimmt nicht schaden. Mainächte können sehr frisch sein. Ich nahm einen
Dufflecoat aus dem Schrank. Glück gehabt, Nestor! Eine gute Idee, den Schrank
zu öffnen. In ihm stand eine Reisetasche mit Namen und Adresse der Besitzerin
auf einem Schildchen: Simone Coulon, Rue Ribera. Ich nahm die Tasche
heraus. Dann lehnte ich die Filmbesessene an einen Bettpfosten. Beladen mit
Kleidersack, Filmmaterial und Reisetasche, ging ich hinaus, um meinen Wagen zu
holen.
Die Rue des Mariniers schlief noch immer tief,
friedlich und fest. Das konnte man von der kleinen Coulon nicht behaupten. Als
ich zurückkam, stand sie schwankend im Zimmer und blickte verwirrt um sich. Um
einem Schreckensschrei aus ihrer Kehle zuvorzukommen, stürzte ich mich auf sie
und hielt ihr den Mund zu. Widerstandslos sank sie in meine Arme.
„Was... was...“ stammelte sie.
„Ich bin ein Freund“, sagte ich mit meiner
sanftesten, beruhigendsten Stimme. „Ein guter Freund Ihres Herrn Papa. In die
Heia, wir gehen jetzt brav ins Heiabettchen. Zu Papa Victor...“
Ich kam mir wirklich vor wie ein Blödmann,
redete aber weiterhin mit ihr wie mit einem Baby. Sie gab ein paar
unartikulierte Laute von sich und kippte dann wieder aus den Latschen, den Kopf
gegen meine Brust gelehnt. Ich lud sie mir auf die Schultern und brachte sie
zum Wagen, wo ich versuchte, sie so bequem wie möglich auf die Hinterbank zu
legen. Ihren Kopf bettete ich auf den prall gefüllten Kissenbezug. Dann kehrte
ich noch einmal in das Totenhaus zurück, um die letzten Spuren zu verwischen,
und verließ endlich den Ort des tragischen Geschehens und die Rue des
Mariniers.
Kaum war ich in den verlassenen Boulevard Brune
eingebogen und hatte Kurs auf die Porte de Vanves genommen, als aus der Tiefe
der Rue Didot die charakteristische Sirene eines Polizeiwagens erklang.
Vielleicht war das Geräusch ja auch nur die Ausgeburt meiner Phantasie,
hervorgerufen durch Müdigkeit und überreizte Nerven. Doch nein, es war keine
Einbildung. Allerdings wurde wohl ganz einfach ein Kranker ins Hospital
Broussais transportiert. Es hätte aber auch etwas anderes sein können... Ich
lauschte in die Nacht hinein. Nichts mehr. Ohne einen bestimmten Grund lachte
ich laut auf.
Ein
Auftrag jagt den nächsten
Wie abgemacht, erwartete mich mein Klient vor
seiner Haustür. Doch er war alleine. Bevor ich den Mund aufmachen konnte, fing
er an, mich anzuschnauzen. Er war furchtbar aufgeregt. Warum ich so lange
gebraucht hätte? Ich und dieser verdammte Arzt, der auch noch nicht aufgetaucht
sei, wir gäben ein schönes Paar ab! Der Schmerz machte ihn blind, wie man so
schön sagt. Wortlos übergab ich ihm meine Fracht, die sich wieder zu bewegen
begann. Abwechselnd jammernd und fluchend transportierte der
Transportunternehmer seine Tochter ins Haus.
Kaum hatten wir Simone in ihr Zimmer gebracht,
als zaghaft an der Haustür geläutet wurde. Coulon knurrte, das sei ja wohl
endlich der verdammte Arzt, und ging öffnen. Es war tatsächlich der verdammte
Arzt, ein schlanker, ziemlich großer Herr, elegant und vornehm in einem hellen
Trenchcoat. Sein ovales, glattrasiertes Gesicht — wahrscheinlich hatte er
Toilette gemacht, bevor er hierhergekommen war; so ein Typ war das — lieferte
absolut keinen Anhaltspunkt in bezug auf sein Alter. Er gehörte zu den
glücklichen Zeitgenossen, die nicht wissen, was Falten im Gesicht sind. Den
ersten Frühling mußte er aber wohl schon hinter sich haben. Das bemerkte ich,
als er seinen Hut abnahm. Er trug eins dieser Haarteile, die allgemein als
„Fifi“ bekannt sind. Auf seiner aristokratischen Nase thronte eine
Goldrandbrille, hinter der sich farblose Augen versteckten. In der Hand — einer
schlanken, beinahe femininen Hand mit langen Chirurgenfingern — hielt er einen
abgeschabten, recht mitgenommenen Arztkoffer.
In Anbetracht der
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