Im Schatten von Montmartre
bestimmt.
Manchmal verlangt es Sie, sich in dieser Aufmachung in der Öffentlichkeit zu
zeigen. Zum Beispiel letzten Samstag, als Sie den Koffer mit den Jadefiguren
aufgegeben haben. Und schließlich die List: Prunier, eine Art Sex-Besessener,
wird eine Frau nur zu gerne in seine Wohnung lassen. Wie dem auch sei, am
Montagabend stehen Sie dem Kameramann in der Rue des Mariniers gegenüber. Es
kommt für ihn nicht in Frage, Ihnen den Film sogleich auszuhändigen. Er
erwartet Mademoiselle Cargelo, um ihr eben diesen Film vorzuführen. Vielleicht
erklärt er Ihnen seine Situation, spricht von Erpressung und läßt durchblicken,
daß er Ihr süßes Geheimnis kennt, droht Ihnen und... Wortwechsel, Streit,
Handgemenge, in dessen Verlauf Prunier erschossen wird, möglicherweise mit
seinem eigenen Revolver. Sie nehmen den Film an sich, und als Sie sich aus dem
Staub machen wollen, entdecken Sie ein junges Mädchen im Nebenzimmer. Ein
harmloses junges Mädchen, das keine Gefahr für Sie darstellt: Sie ist mit
Rauschgift abgefüllt, Ihr sicheres Doktorauge täuscht Sie nicht. Blitzartig
erkennen Sie die Chance, die sich Ihnen bietet: Sie können die Verantwortung
für den Mord an Prunier auf andere Schultern als die Ihren laden. Sie drücken
der Kleinen die Kanone in die Hand und verpassen ihr vielleicht noch eine
zusätzliche Spritze, damit sie noch tiefer und länger schläft. Zu Hause
angekommen, müssen Sie nur noch anonym die Polizei anrufen.“
Ich machte eine Atempause, um dann fortzufahren:
„Das junge Mädchen war Simone Coulon. Jemand
also, den Sie gut kennen. Die Tochter eines Freundes... Hassen Sie die beiden
denn so sehr, Vater und Tochter?“
„Das geht Sie nichts an!“ stieß er mit heiserer
Stimme und zusammengebissenen Zähnen hervor.
Er machte nun nicht mehr den Eindruck, sich zu
amüsieren.
„Oh doch!“ widersprach ich ihm. „Das geht mich
sehr wohl etwas an! Und ich will Ihnen etwas sagen, was den Polizeioffizier
Sébastien umgehauen hätte. Das hätte nämlich sein kleines, mittelmäßiges
Beamten-Begriffsvermögen überstiegen. Aber Sie, Doktor, Sie werden es wissen.
Man darf sich nicht von Ihrer Neigung zur Travestie täuschen lassen und der
Meinung von geistig Minderbemittelten wie Sébastien anschließen. Für solche
Leute ist nämlich jeder, der Frauenkleider anzieht, ein Homosexueller. Dagegen
hat Ihr brillanter Kollege aus Deutschland, Herr Dr. Magnus Hirschfeld,
einwandfrei bewiesen, daß diese Neigung nicht das geringste mit Homosexualität
zu tun hat. Im Gegenteil. Sie zum Beispiel haben früher einmal eine Frau
geliebt und lieben sie immer noch. So sehr, daß Sie sich Wachspuppen nach ihrem
Ebenbild anfertigen ließen. Das heißt, gleichzeitig hassen Sie sie auch,
nachdem sie Sie abgewiesen hat. Und diesen Haß haben Sie auf ihre Tochter und
auf den glücklicheren Rivalen übertragen. Coulon, der Ihrer
Gesellschaftsschicht nicht angehört, hat eine Frau geheiratet, die eben dieser
Gesellschaftsschicht angehörte: Eliane Soundso. Sie kannten sie, Sie liebten
sie, aber sie hat Coulon geheiratet. Sie haben weiterhin mit der Familie
verkehrt, haben sich mit Coulon angefreundet. Er jedenfalls hält Sie für seinen
Freund. Victor Coulon ist ein Mann, der nicht viel versteht. Zum Beispiel würde
er nicht verstehen, daß Sie sich diesen Wachsfiguren widmen, sie mit kostbaren
Stoffen behängen oder mit Ketten fesseln. Und alle haben das Gesicht der
geliebten Frau... Geliebt, angebetet und zugleich gehaßt. Das Original der
Puppen ist nicht Simone, wie ich zunächst gedacht hatte, sondern ihre Mutter.
Nach dem Foto zu urteilen, das ich bei Coulon gesehen habe, gleichen sich
Mutter und Tochter auf bemerkenswerte Weise... Als Simones Mutter verrückt
wurde, haben Sie sich um sie gekümmert. Ich weiß allerdings nicht, ob Sie sie
gepflegt oder ihren Zustand verschlimmert haben. Na ja, das ist jetzt egal...
Kehren wir wieder in die Rue des Mariniers zurück. Sie entdecken Simone in
Pruniers Schlafzimmer. Eine Riesenüberraschung! Sie erkennen sofort die Chance,
die sich für Sie daraus ergibt: Erstens können Sie die Schuld auf das Mädchen
abwälzen, und zweitens können Sie Vater Coulon damit großen Kummer bereiten.
Sie gehen so vor, wie ich es eben beschrieben habe; dann fahren Sie nach
Sceaux, um von dort aus die Flics anzurufen und sie an den Tatort zu schicken...
Ach ja, das habe ich ganz vergessen: Sie nehmen Pruniers Adreßbuch mit,
verlieren es aber auf Ihrer Flucht. Und jetzt, Doktor,
Weitere Kostenlose Bücher