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Im Schatten von Notre Dame

Titel: Im Schatten von Notre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Kastner
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Schicksal widerfahren, wenn ich nicht für Euch spioniere, Magister Villon?« Ich konnte mich nicht dazu durchringen, ihn Vater zu nennen, und er schien das nicht zu erwarten.
    »Unsinn!« antwortete er. »Der Mann war bereits tot, als wir ihn vom Friedhof holten. Leonardo hat schon viele Leichen geöffnet. Er sucht den Weg, auf dem die Seele den Leib verläßt.«
    »Ah«, meinte ich krampfhaft ironisch. »Ihr wollt also den Weg ab-kürzen, den die Seele auf ihrer Suche nach Erlösung von Körper zu Körper gehen muß.«
    »Wir arbeiten daran«, sagte Leonardo, wischte seine Hände an einem blutbefleckten Lappen ab, trat vor die Wand und trug mit einem Kohlestift ein paar Striche in die dort befindliche Zeichnung ein.
    Sie zeigte einen Mann im Profil, nackt, aufgeschnitten wie der Leichnam auf dem Tisch. Ich sah das Rückgrat, die Knochen und vielfältige Innereien jedweder Größe und Form. Schnell wandte ich den Blick ab, zu sehr fühlte ich mich an das ekelerregende Fleisch auf dem Tisch erinnert.
    »Ich habe eine Frage an euch drei«, sagte Villon. »Habt ihr, als Armand sich umzog, irgend etwas an seinem Leib bemerkt, von dem ihr mir berichtet habt?«
    »Ich wüsste nicht, was«, antwortete Leonardo, und auch Tommaso verneinte es.
    »Che cosa?« fragte Atalante, und Leonardo übersetzte es ihm. »No.«
    Der lockenköpfige Jüngling schüttelte seine Haarpracht. »Ich habe nichts bemerkt oder erzählt, habe nur einen guten Schluck Lebenswasser mit Signore Armand getrunken.«
    Mit einem Lächeln – oder dem, was bei ihm so aussah – drehte sich Villon zu mir um und fragte: »Nun, Armand, besteht Ihr auf einem Eid? Oder auf einem Besuch bei Colette?«
    »Nicht nötig«, sagte ich, weil ich den nach ranzigem Öl und Verwesung stinkenden Raum nur schnell verlassen wollte. Zudem, so dachte ich, würden die Italiener sicher auch einen falschen Eid schwören, sollten sie eben gelogen haben.
    Villon wandte sich an die drei anderen und bat sie, uns zu begleiten. »Armand hat mir viele bemerkenswerte Dinge berichtet. Vielleicht hilft es uns weiter, wenn wir damit unsere Denkmaschine füttern.«
    Die Italiener reinigten ihre Arme in einem großen Zuber mit Bürste und Seife, und das Wasser färbte sich rosa wie der erste sanfte Schimmer eines blutjungen Morgenglühens. Wir folgten Villon, der seine Kapuze wieder überstreifte, zu einem anderen Raum, vor dessen gro-
    ßer Tür zwei mit Piken und Schwertern bewaffnete Männer wachten.
    Bereitwillig wichen sie vor Villon zurück und schoben die Tür auf, um sie hinter uns wieder zu schließen. Der Anblick, der sich mir bot, war nicht weniger phantastisch als der im vorigen Raum.
    »Ist das die Denkmaschine des Raimundus Lullus?« fragte ich, während ich das Gebilde, das sich im Halbdunkel vor mir erhob, andächtig bestaunte. Einige wenige Wandkerzen warfen mattes Licht in den großen Raum.
    »Unser Wunderwerk, das Leonardo konstruiert und zusammen mit Tommaso und Atalante gebaut hat, fußt auf der Erfindung, die Lullus in einiger Selbstüberschätzung auch das Göttliche Alphabet genannt hat«, antwortete Villon. »Hätten unsere Brüder in Italien nicht Leonardo und seine Gefährten zu uns entsandt, wären wir wohl längst nicht so weit. Versuchen wir unser Glück!«
    Die Apparatur bestand im wesentlichen aus zahlreichen konzentrischen Scheiben dünnen Metalls, die im Durchmesser wechselten, von dem eines Kindes bis zu dem eines erwachsenen Mannes. Schiefertafeln waren auf das Metall genagelt, und einige der Tafeln waren mit Kreide beschrieben: griechische und lateinische Buchstaben oder auch ganze Wörter. Wieder andere Scheiben wiesen nur verschiedene Symbole auf. Dank des unterschiedlichen Durchmessers der einzelnen Scheiben waren die Schieferplatten sämtlicher Scheiben jederzeit sichtbar. Darin gab es eine Menge Hebel, Walzen und lederne Riemen, die über Rollen liefen. Alles war miteinander verbunden wie die Organe im Leib eines Menschen.
    Leonardo nahm ein Kreidestück aus einem Holzkasten, trat zu den Metallscheiben und schrieb die Begriffe auf, die Villon ihm nannte, oft in abkürzenden Buchstaben, die mir völlig willkürlich erschienen, aber sicher einem System gehorchten: Frollo – Notre-Dame – Smaragd – Templer – Neunerbund – Großmeister – Cité-Ufer – Stabzehn.
    Als er mit dem Beschriften fertig war, legte er mehrere Hebel um und trat zurück, zu uns. Und dann fuhr ich zusammen.
    Wie von der Hand eines unsichtbaren Riesen bewegt, begannen sich

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