Im Schatten von Notre Dame
und größer ist auch die Sünde, die ich auf mich geladen habe.«
Ich bekam seinen rechten Arm zu fassen und schüttelte ihn durch.
»Redet nicht weiter herum, sagt mir endlich, wer Ihr wirklich seid!«
»Das habe ich getan.«
»Euren Namen!« schrie ich. »Nennt mir Euren Namen!«
Ich rüttelte ihn derart, daß er den Halt verlor und auf die Knie fiel.
Da sah er zu mir auf und begann mit seiner dünnen, hustenkranken Stimme einen krächzenden Singsang:
»Er kniet vor dir mit kahlem Haupt,
geschält wie eine nackte Rübe,
ewig Frieden sei ihm erlaubt,
daß nichts dein ewig Licht betrübe.
Das Schicksal trieb ihn ins Exil,
trat ihn ganz kräftig in den Arsch,
obwohl sein Widerstand war barsch,
das nenne ich kein feines Spiel.
Schenk ewig Ruhe ihm, o Herr,
und auch dein ewig leuchtend Licht,
das ist von nun sein Leibgericht,
kein Lauchhalm schmeckt ihm da so sehr.«
Die letzten Laute mündeten in einen Hustenkrampf, der seinen Leib vollends zu Boden warf. Dort wand er sich wie ein Wurm. Blutiger Auswurf tropfte aus seinem bebenden Mund, verklebte sein Kinn und bildete unter ihm eine rötliche Lache. Ich befürchtete schon, er werde sich sämtliche Eingeweide aus dem Leib husten. Allmählich fing er sich, wischte mit dem Ärmel über sein Gesicht und sah zu mir auf.
Noch immer kniete er vor mir, als erwarte er, daß ich ihm Absolution erteile.
Ich wich zwei Schritte zurück, aus Angst, wie ich eingestehe, aus Angst vor der Wahrheit. »Warum singt Ihr das Lied von diesem Galgenstrick Villon?«
»Ihr habt Euch nach mir erkundigt, Armand, und ich habe Euch meine Geschichte erzählt.«
»Eure Geschichte?« Ich sprach unendlich langsam, als sei ich taub und unverständig wie Quasimodo. »Dann wollt Ihr sagen, Ihr seid François Villon, der Galgenstrick, der Hurenbock, der Balladendich-ter?«
»Ich war ein Strolch und ein Poet der Gosse, bevor ich ein anderer wurde. Und gerade deshalb verstehe ich Eure Empörung, wenn Ihr hört, daß ich Euer Vater bin. Mir ging es ganz ähnlich, als mein Ziehvater Guillaume de Villon eines Tages erklärte, nicht nur meinen Geist, sondern auch meinen Leib geformt zu haben. Und auch ich mußte damals lernen, daß eine große Verantwortung auf mir lastet – mehr als einem Menschen bestimmt sein sollte.«
Er wollte aufstehen, doch der Husten hatte ihn entkräftet. Hätte ich ihn nicht aufgefangen, er wäre erneut gestürzt. Ich führte ihn zu dem Stuhl am Kamin und brachte ihm Wein. Meine Wut hatte sich gelegt, Neugier war an ihre Stelle getreten. Und Mitgefühl.
»Verfluchtes Leben, das ich führte«, sagte er nach einem langen Schluck. »In feuchten, kalten Verliesen oder in zugigen Wäldern habe ich meine Gesundheit eingebüßt. Ich lebe von geborgter Zeit und bin froh, Euch endlich beichten zu können.«
»Ich bin kein Pfaffe«, beschied ich knapp.
»Und ich erbitte keine Vergebung, erhoffe nur Verständnis. Wie gesagt, auch mir fiel es schwer, meinem Vater zu glauben. Man hatte ihn in die Conciergerie geworfen und wollte ihn, den Bischof der Guten Menschen, mundtot machen. Zum Glück erreichte mich seine Nachricht. Ich kratzte die Reste der Coquille zusammen, und in einem Handstreich befreiten wir Guillaume de Villon, damals, im Jahr der großen Pest. Die zwei Jahre, die ihm verblieben, lehrte er mich alles, was er wußte, damit ich die Suche nach dem Sonnenstein fortsetzte. Und er berichtete mir von unserer Abstammung, daß unser Ahn-herr jener Amiel-Aicart ist, der von den stürmischen Höhen Montsé-
gurs ebenso entkam wie aus der mörderischen Falle Udauts. Wir sind zu Hütern des Smaragds bestimmt. Deshalb, Armand, hattet Ihr seine Träume, und deshalb konnte ich seine Erinnerung zu Eurer werden lassen. Die Kraft des Smaragds, der Ihr in Notre-Dame ausgesetzt wart, verstärkt diese Fähigkeit noch. Der Stein bewahrt Erinnerungen, Gedanken und Träume, wie es der Geist eines Menschen nicht besser könnte.«
»Und Ihr übernahmt einfach so die Rolle Eures Vaters?«
»Es war meine Bestimmung. Fortan streifte ich durch die Gassen von Paris, und mancher nannte mich den Geistermönch. Von François Villon aber blieben nur die alten Lieder.«
»Wo tauche ich in der Geschichte auf? Und wenn Ihr mein Vater seid, wer ist meine Mutter?«
»Sie war ein hübsches Mädchen aus Reims, die Tochter eines Bänkelsängers namens Guybertaut. Zu ihrem anmutigen Gesicht, das von feuerroten Locken umspielt wurde, gesellte sich eine schöne Stimme, weshalb man sie la
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