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Im Schatten von Notre Dame

Titel: Im Schatten von Notre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Kastner
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die Metallscheiben zu drehen. Die Lederriemen schnurrten über Laufrollen, dicke Walzen drehten sich mit, Verbindungsstangen stießen vor und zurück. Das Kerzenlicht wurde vom sich drehenden Metall reflektiert, zuckte in Gestalt winziger Blitze durch den Raum und stach schmerzhaft in die Augen. Das mechanische Untier war mit ohrenbetäubendem Quietschen, Knarren und Kreischen zum Leben erwacht.
    Fast schien mir, als schreie es nach Nahrung und als gäbe ich ein gutes Opfer ab, um das Göttliche Alphabet milde zu stimmen.
    Nur der Umstand, daß Villon und die Italiener dem lauten Treiben der Denkmaschine reglos zusahen, hielt mich davon ab, den Raum eiligst zu verlassen. Sie kannten das Schauspiel schon, für mich war es neu und furchterregend. Außerdem hasste ich Maschinen, woran die Erfindung Gutenbergs schuld war.
    Nach und nach kamen die sich gegeneinander drehenden Scheiben zur Ruhe, hielten Riemen und Laufrollen an, rasteten Hebel ein, und endlich stand das künstliche Wesen still, schnaubte und kreischte nicht länger.
    »Sehen wir nach!« sagte Villon.
    Meine Begleiter gingen auf die Maschine zu, und ich folgte ihnen nach kurzem Zögern. Die Neugier war stärker als der Respekt vor der unerklärlichen Erfindung. Die anderen standen vor den Metallscheiben und suchten die Schiefertafeln nach einer erhellenden Mitteilung ab.Enttäuschung lag auf Leonardos Gesicht, als er die Scheiben mit den lateinischen Buchstaben durchgesehen hatte. »Nichts, nur unverständliches Zeug.«
    »Aber hier, bei den griechischen Buchstaben, hier steht’s!« rief Villon aus und ließ sich von einem heftigen Husten, das seine Worte begleitete, nicht beirren. Langsam las er das Wort vor, das die Buchstaben mehrerer Kreise bildeten: »ΑΝΑΓΚΗ Ananke. Und dieses Symbol steht für die Kathedrale von Notre-Dame.« Er wies auf eine Schiefertafel neben dem griechischen Wort, deren Bild ein einfach gezeichnetes Haus mit einem Kreuz auf dem Dach zeigte. »Ein eindeutiger Hinweis, daß wir nicht zu spät sind, daß sich das Geheimnis noch hinter den Mauern der Kathedrale verbirgt!«
    »Ananke«, wiederholte ich leise, in Gedanken versunken. »Das war es also.«
    »Was meint Ihr?« fragte Leonardo, der mir am nächsten stand.
    »Als Philippot Avrillot in meinen Armen starb und mir sein seltsames Abschiedsgeschenk überreichte, sagte er etwas von einem Geheimnis und dann ein Wort, das ich nicht richtig verstand. Ananke, so könnte es gelautet haben.«
    »Das griechische Wort für Schicksal, Verhängnis«, sagte Villon.
    »Dieser Begriff steht in den alten Aufzeichnungen für das Weltende, für das große Feuer, das alles, was auf dieser Welt besteht, vernichtet.«
    Düster fügte er hinzu: »Einschließlich der dann auf ewig verdammten Seelen!«
    Leonardo sah mich neugierig an. »Was ist das für ein Abschiedsgeschenk, Signore Armand?«
    »Nur eine Holzfigur«, sagte ich und beschrieb sie.
    »Dann muß es ›Ananke‹ gewesen sein, was Avrillot Euch sagte«, meinte Leonardo. »Die Schlange, die sich in den Schwanz beißt, Ouroboros, ist das Zeichen der sich wandelnden Materie, der Transmutation, die zum Ende des Stofflichen führt. Die Schlange Ouroboros ist gleichzusetzen mit dem Drachen des letzten Gerichts in der Offenba-rung des Johannes. Und der Drache ist das Symbol des Satans wie auch der Machina Mundi, der Weltmaschine. Avrillot war auf der richtigen Spur. Leider konnte er uns nicht mehr mittel …«
    Mitten im Wort brach er ab. Wir alle hatten dasselbe gehört, laute Geräusche jenseits der Tür: eilige Schritte vieler Menschen, schrille Schreie und das Klirren von Waffen. Als wir still waren und lauschten, vernahmen wir es deutlicher. Kein Zweifel, im unterirdischen Labyrinth der Katharer tobte ein heftiger Kampf.

Kapitel 7
    ›Die Ägypter kommen!‹
    Die Tür, an der unsere Blicke hingen, wurde grob aufgestoßen und schlug mit lautem Krachen gegen die Wand. Einer der Wächter taumelte in den Raum, das bestürzte Gesicht blutüberströmt, in der Rechten sein ebenfalls blutiges Schwert. Aus aufgerissenen Augen starrte er uns an und rief: »Die Ägypter kommen! Auf einmal waren sie überall und haben …«
    Da tauchte hinter ihm in der offenen Tür eine farbenprächtige Gestalt auf. Ein schwarzhaariger Mann im buntbestickten Kittel, um den Hals eine glitzernde Perlenkette, in den Ohren goldene Ringe. In einer schnellen, fließenden Bewegung hob er den rechten Arm und wirbelte über seinem Kopf etwas um den ausgestreckten

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