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Im Schatten von Notre Dame

Titel: Im Schatten von Notre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Kastner
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Zeigefinger. Es sah aus wie ein handgroßer Metallring. Ein kurzer Ruck der Hand, und der Ring flog mit leisem Sirren durch die Luft, um sich in den Nacken des Wächters zu fressen. Die Außenkante der seltsamen Waffe mußte scharf wie ein Henkersbeil sein. Blut schoß aus der klaffenden Wunde, und die Worte des Wächters erstickten in einem dumpfen Gurgeln, als er vor uns zusammenbrach.
    Schon hatte der Ägypter einen zweiten Wurfring hervorgezaubert und ließ ihn um seinen Finger kreisen. Atalante warf seinen Ohrendolch. Die Klinge fuhr tief in die Brust des Zigeuners, der zusammen-klappte und mit einem dumpfen Laut zu Boden ging. Der eben noch so gefährlich scheinende Ring rollte mit harmlosem Klirren über den Estrich und prallte gegen den Steinsockel der Denkmaschine.
    Andere Ägypter drängten in den Raum, eine Handvoll, zwei, dann drei Handvoll, ebenso bunt gekleidet und glitzernd geschmückt wie der erste und jeder mit einer tödlichen Waffe versehen. Manche waren blutverschmiert. Es verblüffte mich, wie viele von ihnen sich in den Gängen unter dem Tempelbezirk aufhielten. Sie mußten schon eine ganze Weile gegen Villons Leute gekämpft haben, doch das Getöse der denkenden Denkmaschine hatte die Laute verschluckt.
    Leonardo zog sein Kurzschwert, Tommaso den Dolch, und Atalante hob des Schwert des gefallenen Wächters auf. Auch Villon holte einen Dolch unter seiner Kutte hervor. Seite an Seite standen sie vor der Maschine, als wollten sie ihr Blut geben, um das Wesen aus Metall, Holz und Leder zu verteidigen. Den ersten Ansturm der Angreifer warfen sie, allesamt geschickte Meister der blanken Klinge, zurück, doch sie zogen sich einige Blessuren zu.
    Die frommen Brüder von Sablé hatten mich nicht gelehrt, gegen einen waffenkundigen und noch dazu übermächtigen Gegner die Klinge zu führen, und meine Kenntnisse in der Handhabung des Federmessers waren hier nicht von Nutzen. Deshalb zog ich mich in den Schatten der Denkmaschine zurück und kletterte, als mehr und mehr Zigeuner in den Raum drängten, auf das Gestänge, das die Metallscheiben antrieb und miteinander verband. Das spärliche Kerzenlicht reichte kaum bis in das Gewirr aus Stangen, Rädern, Riemen und Walzen, mit deren Schatten ich zu verschmelzen hoffte. Als ich, umhüllt von einem beißenden Geruchsgemisch, das warmem Leder, Öl und Fett entströmte, bäuchlings auf der Maschine lag und einen sicheren Platz gefunden zu haben glaubte, schob ich mich ein kleines Stück vor und spähte nach unten, wo immer noch Klingen aufeinander trafen und Männer spitze Schreie ausstießen.
    Atalantes rechter Arm war blutüberströmt, und er focht mit dem linken weiter. Tommaso kniete am Boden und hielt mit dem Mut der Verzweiflung dem Ansturm mehrerer Angreifer stand. Villon und Leonardo klebten rücklings an der Maschine und wehrten sich so tapfer wie aussichtslos. Villons Kapuze war nach hinten gerutscht, und der Anblick seines Totengesichts ließ manchen Ägypter erschauern.
    Einige am Boden verstreute Zigeuner zeugten von der Tapferkeit und dem Geschick der Verteidiger, aber der Vielzahl der Angreifer hatten sie nichts mehr entgegenzusetzen. In wenigen Augenblicken, daran hegte ich keinen Zweifel, würde es mit den Italienern zu Ende gehen –
    und mit François Villon, meinem Vater!
    Angst und Trauer überfielen mich. Und Scham darüber, ihm nicht beigestanden zu haben. War ich wirklich nur auf die Denkmaschine geflohen, weil ich kein erfahrener Fechter war? Oder hatte ich meinen Vater allein lassen wollen, wie er es ein Leben lang mit mir getan hatte? Ja, es stimmte, Rachegedanken hatten mich angetrieben. Er hatte dieselbe Einsamkeit spüren sollen wie ich!
    Und nun, da ich meine Dummheit erkannte, war es zu spät. Gewiß hätte ich nichts ändern können. Aber hätte ich nicht an seiner Seite kämpfen und sterben sollen, wenigstens im Tod mit ihm vereint?
    Ein Befehl durchschnitt den Kampfeslärm, mit hoher Stimme ausgestoßen, aber durchdringend und respektheischend, erst in einer fremden Sprache und dann auf französisch: »Senkt die Waffen! Hört auf zu kämpfen!«
    Augenblicklich gehorchten die Zigeuner und traten von den erschöpften Verteidigern zurück. Durch die Reihen der Buntgekleideten schritt ein ebenso abenteuerlich gewandeter Mann, den ich vom Dreikönigstag kannte. Bunte Lappen formten auf seinem Schädel eine Art Mütze, die an eine Krone erinnerte. Als steche seine mit Gold- und Sil-berflitter und Perlen besetzte Zigeunerkleidung noch

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