Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Im Schatten von Notre Dame

Titel: Im Schatten von Notre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Kastner
Vom Netzwerk:
nicht, daß ich es ehrlich meine?«
    »Es könnte auch beweisen, daß Ihr Euch die Dinge gut zurechtgelegt habt, um mich zu veranlassen, weiterhin Euren Spitzel zu spielen.«
    War das Zucken seiner Narben der schwache Anflug eines gequälten Lächelns oder nur der Widerschein des Feuers? Ich vermochte es nicht zu entscheiden. »Misstrauen ist gut und für uns sogar lebenswichtig, überlebenswichtig, aber es sollte nicht krankhaft werden. Verlangt Ihr etwa einen Beweis dafür, daß ich Euer Vater bin?«
    »Ja!«
    Jetzt lächelte er wirklich, ganz kurz. Es war wie das Eintauchen in ein warmes Bad oder in eine schöne Erinnerung. »Als Paquette Euch und Euren Bruder gebar, ließ ich euch zeichnen. Jedem ließ ich eine kleine Muschel einbrennen, damit die Brüder der Coquille wußten, daß ihr die Kinder ihres Königs seid.«
    Mit neu gefundener Kraft erhob er sich und ging zur Tür, die er nur einen Spalt aufzog. Er rief etwas nach draußen, und wenig später brachten ein paar Männer zwei große, fast hüfthohe Spiegel herein, die sie so aufstellten, daß einer vom glatten Metall des anderen reflektiert wurde. Einer der Männer legte meine getrockneten Kleider aufs Bett.
    Sie verließen den Raum wieder, und Villon forderte mich auf, mich auszuziehen.
    »Warum?« fragte ich unsicher.
    »Damit Ihr Eure Kleider wieder anlegen könnt und damit ich die er-betene Beweisführung erbringen kann. Die Muschel befindet sich auf Eurer linken Arschbacke.«
    Ich zog mich aus, und ein leichtes Schwindelgefühl packte mich.
    Endlich glaubte ich zu verstehen, warum man mich bei Maître Aubert einen Muschelbruder genannt hatte. Und tatsächlich, als ich nackt zwischen den Spiegeln stand, sah ich zum ersten Mal in meinem Leben das kleine Ding, nicht größer als eine Fingerkuppe. Beim flüchtigen Betrachten mochte es wie ein Muttermal erscheinen, aber dem Wissenden enthüllte es die Form einer Muschel.
    »Glaubt Ihr mir endlich, Armand? Nur Euer Vater konnte das wissen.«
    »Falsch!« schnaubte ich verächtlich, während ich meine Kleider an-zog, denn ich meinte, Villon durchschaut zu haben. »Jeder, der mich schon einmal ohne Hosen gesehen hat, konnte das wissen, jeder Bader und jede Frau.«
    »Ich bin kein Bader und weiß Gott keine Frau!«
    »Aber zu Eurem Bund gehören die drei Italiener, die mich vorhin, als ich die Kleider wechselte, so nackt gesehen haben wie Ihr jetzt! Colin … Colette übrigens auch!«
    Das war’s! Endlich ein Triumph für mich, der letzte Stich, der ent-scheidende Stoß. Dem hatte selbst der gewiefte alte Fuchs nichts mehr entgegenzusetzen. Er starrte mich fassungslos an, schüttelte langsam den Kopf und murmelte: »Da kann man nichts machen, Ihr wollt Euch einfach nicht überzeugen lassen.«
    »Ich will mich nur nicht weiter hinters Licht führen lassen«, entgegnete ich, hochnäsig zwar, doch nicht ganz siegesgewiss. Denn der Triumph, den ich fühlte, war der eines gekränkten Sohns über den Vater, war die Rache eines lange Enttäuschten an dem, dem er es endlich heimzahlen konnte. Was mit Beweisen vielleicht nicht zu untermauern war, was der Verstand nicht annehmen mußte, hatte meine Seele längst als wahr erkannt. Und so willigte ich ein, als Villon mit dem letzten Rest Kraft und gutem Willen vorschlug, die Italiener und Colette zu befragen und, wenn nötig, einen heiligen Eid auf die Wahrheit ihrer Worte schwören zu lassen.
    »Und das wiegt schwer«, fügte er hinzu. »Uns Reinen ist der Eid verboten. Ausnahmen sind nur für ganz besondere Fälle erlaubt.«
    Er führte mich durch sein unterirdisches Reich in einen abgelegenen Raum, aus dem uns fürchterlicher Gestank entgegenschlug. Zahlreiche Kerzen und Öllampen glichen den Umstand aus, daß es hier kein Tageslicht gab. Der strenge Ölgeruch war noch angenehm im Vergleich zu dem süßlichen Duft, der mich an die Gebeinhäuser auf dem Friedhof der Unschuldigen Kindlein gemahnte. Die drei Italiener, in ledernen Schürzen, standen um einen großen Holztisch. Was darauf lag, ließ mich wünschen, kein einziges Licht würde den Raum erhellen.
    Leonardo, Atalante und Tommaso hatten die Ärmel hochgekrem-pelt. Ihre Hände und Unterarme waren blutverschmiert. Wie auf dem Schlachthof wühlten sie in den Eingeweiden, die vor ihnen lagen. Nur war das aufgeschnittene Fleisch kein Schwein und kein Rind, sondern ein Mensch, ein nackter Mann – oder was davon übrig war.
    Ich wandte mich ab und fragte aufstöhnend, was das zu bedeuten habe. »Soll mir das gleiche

Weitere Kostenlose Bücher