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Im Schatten von Notre Dame

Titel: Im Schatten von Notre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Kastner
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Chantefleurie nannte, die singende Blume. Ihr eigentlicher Name war Paquette. Ich war auf zehn Jahre aus Paris verbannt und fand Unterschlupf in Guybertauts Haus, was mich sehr freute. Wahrhaft glücklich war ich jedoch, als Paquette la Chantefleurie mich in ihr Bett schlüpfen ließ. Ihr alter Vater starb bald, und ich übernahm sein Geschäft. Dichten und singen, davon verstand ich was. Schon richtete ich mich auf ein geruhsames Leben ein als geliebter Mann und Pa-triarch. Ja, mein Samen war in der schönen Blume aufgegangen, und als sie niederkam, schenkte sie gleich zwei Jungen das Leben, Brüdern, aber sehr ungleichen.«
    Als er von Paquette la Chantefleurie berichtete, belebte sich Villons Gesicht. Fast schien es, als wollten die Narben verschwinden, als wollten Reinheit und Schönheit seine Züge verzaubern. Aber es war nur ein Trugbild seiner Erinnerung. Jetzt, als er von der Niederkunft er-zählte, nahm sein Antlitz wieder die alte Gestalt an, verlebt, verwü-
    stet, totenhaft.
    »Es war, als hätte die Natur entschieden, dem einen Kind die Schönheit der Mutter und dem anderen die Hässlichkeit des durch Kämpfe und Foltern gezeichneten Vaters mitzugeben«, fuhr Villon fort. »Der eine Sohn war makellos, mit sanften Zügen und reiner Haut, der andere aber ein hässlicher Krüppel, verbogen wie ein Eisen, das zu lange im Schmiedefeuer gelegen hat. Ich wollte beiden Kindern meine Liebe schenken, doch dann rumorten die bösen Zungen. Ein Krüppel galt damals wie heute als Ausgeburt des Teufels, und ein Spielmann steht in den Augen der Menschen Gott nicht gerade nahe. Wir wurden bedroht, bespuckt und verhöhnt. Schon wurden Stimmen laut, die uns allesamt ins läuternde Feuer des Scheiterhaufens schicken wollten. Dies und die Gewissheit, daß unser verunstalteter Sohn niemals ein gutes Leben haben würde, brachten mich zu dem Entschluß, ihn zu töten.«
    »Euren eigenen Sohn?«
    Villon nickte traurig. »Versteht Ihr nicht, Armand? Ich mußte es tun, um Euch und Eure Mutter zu retten! Aber Paquette dachte anders als ich. Sie war schwächer oder stärker, ganz wie Ihr es sehen wollt. Eines Morgens war sie verschwunden. Den Krüppel, dem wir nicht einmal einen Namen gegeben hatten, so aussichtslos erschien uns sein junges Leben, hatte sie mit sich genommen. Man will sie auf der Straße nach Paris gesehen haben, und ich fürchte, wenn das stimmt, hat der Schwarze Tod beide verschluckt.«
    »Habt Ihr nicht weiter nach ihnen gesucht?«
    »Es war mir unmöglich, der Hilferuf meines Vaters kam dazwischen.
    Ich mußte zurückkehren nach Paris, was mir unter Androhung der Todesstrafe verboten war. Aber wer sollte annehmen, daß ich ausgerechnet in die Peststadt kam! Euch brachte ich bei den frommen Brü-
    dern in Sablé unter, weit entfernt von allem, und immer behielt ich Euch im Auge.«
    »Und doch habt Ihr mich im ungewissen gelassen, habt mir nicht gesagt, wer mein Vater und wer meine Mutter ist!«
    »Was hätte ich tun sollen?«
    »Ihr hättet Euren Sohn zu Euch holen können.«
    »Hierher? Wie hätte ich, ein Suchender und ein Gejagter zugleich, jeden Tag vom Tod bedroht, für Euch sorgen sollen?«
    »Aber jetzt gebt Ihr Euch zu erkennen!«
    »Weil ich Eure Hilfe brauche. Nicht nur ich, alle Guten Seelen brauchen sie. Ihr könnt der Retter werden, Armand. Ich ahnte es vom ersten Tag an und nannte Euch deshalb Sauveur, den Retter. Als ich spür-te, daß die Dinge in Paris sich zuspitzen, daß der Sieg – von Weiß oder von Schwarz – kurz bevorsteht, ließ ich Euch kommen.«
    »Ihr irrt.« Ich grinste ihn frech an. »Ich mußte Sablé verlassen, weil mein Dienstherr mich in einer Lage vorfand, die Euch früher gewiß zu einer deftigen Ballade angeregt hätte.«
    »Nein, Ihr irrt, Armand, wenn Ihr an einen Zufall glaubt. Auf meine Veranlassung wurde Messire Donatien Frondeur zu einer Beurkun-dung gerufen, die längst vollzogen war. Deshalb kehrte er verfrüht zu-rück. Wie unsichtbare Geister geleiteten meine Leute Euch auf dem Weg nach Paris.«
    In der Tat, Villon verstand es meisterhaft, mich aus der Bahn zu werfen. Jeden noch so kleinen Triumph, den ich über ihn zu erringen glaubte, verwandelte er augenblicklich in eine Niederlage. Meine Wut kehrte zurück. Wenn er die Wahrheit sprach, hatte er mich wie ein Tier oder einen willenlosen Sklaven behandelt. Log er mich aber an, war das noch weniger ein Grund, ihm freundlich gesinnt zu sein.
    »Ihr wisst auf jede Frage eine Antwort«, murrte ich.
    »Beweist das

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