Im Schatten von Notre Dame
Eure Tochter gelassen, Herzog?«
»Sie wird kommen.« Das war alles andere als der herzliche Ton, den man von einem Schwiegervater erwarten mochte. Obwohl die eheliche Verbindung, wie mir la Esmeralda verraten hatte, eine höchst oberflächliche, wenn nicht gar zweifelhafte war, schien sie dem Herzog nicht zu behagen. Oder er mochte keine Männer, die lieber sich selbst als andere zum Narren hielten.
Mathias raunte einem Untergebenen etwas zu, und der Zigeuner lief zu seinem Lager. Laut sagte der Herzog: »Bringen wir die Frau in die Schenke. Dort haben wir genug Platz, um sie zu versorgen.«
Den Teppich als Bahre benutzend, trugen Leonardo, Tommaso und zwei Zigeuner die Ohnmächtige. Ich war froh, nicht mit anpacken zu müssen. Meine Hände hätten vor Erregung gezittert.
Villon hatte ein Tuch über seinen Kopf gezogen und sein Gesicht verhüllt. Unklar blieb mir, ob er niemanden durch den Anblick seines Totenschädels erschrecken oder ob er nicht erkannt werden wollte.
»Was ist dies für ein Ort?« fragte ich den neben mir gehenden Herzog.
»Der Hof der Wunder. Hier werden Lahme gehend und Blinde sehend. Einarmige greifen mit beiden Händen zu, und Aussatzflecken verblassen im Nu. Wer bei Tag ein Krüppel ist, wird in der Nacht hier zum Mann. Wer im hellen Licht stirbt, im Dunkel hier auferstehen kann.«
Ich war zu erregt und verwirrt, um den poetischen Ausbruch des Zigeuners zu verstehen. Wir hielten auf den am besten erhaltenen Turm zu, und Gringoire, der uns vorausgelaufen war, stieß eine niedrige Pforte mit einer verblassenden Schmiererei auf: fünf blinkende Münzen und geschlachtete Hühner mit dem darunter gekritzelten Spruch Zur Hölle mit den Hühnchen!
Als ich mich, während wir eine steile Treppe hinabstiegen, nach der Bedeutung erkundigte, lachte Mathias rau. »Hühnchen nennt man hier die Scharwächter und sonstiges Spitzelpack. Fünf Sols zahlt der König jedem, der einem Ordnungshüter oder Spion den Wanst auf-schlitzt. Das ist einer der Gründe, weshalb sich kein noch so starker Trupp der Scharwache an diesen Ort wagt.«
»Ihr sprecht doch nicht von unserem guten König Ludwig!«
»Gewiß nicht. Der König, den ich meine, sitzt dort bei Wein und Weib.«
Er zeigte auf einen kräftigen Mann, der auf einer Bank an einem der zahlreichen weinfleckigen Tische hockte, in der einen Hand einen Weinkrug, den er ohne Zuhilfenahme eines Bechers leerte, in der anderen die entblößte Brust einer Rothaarigen, die sein Haar kraul-te und ihn angurrte wie eine liebeskranke Taube. Ich erkannte Clopin Trouillefou, den Bettlerkönig, und jetzt begriff ich alles. Der Wunderhof war das Heim der Bettler, das Herz ihres geheimen Königreichs, ausgestattet mit eigenen Gesetzen und mit einem eigenen König.
Clopin Trouillefou schob achtlos den Weinkrug und die dralle Maid beiseite, stülpte einen Hut, der mit Ringen besetzt war und an eine von Kindern zum Spiel gefertigte Krone erinnerte, auf sein krauses Haar und erhob sich mit einem Schwanken, das nicht recht zu seiner Kö-
nigswürde passen wollte. »Ah, da seid Ihr ja, bester Herzog«, sagte er und rülpste. »Dachte schon, Ihr wolltet Euren König im Stich lassen und allein auf Beutejagd gehen.«
»Wo wir waren, gab es keine Beute zu holen, nur den Tod.« Mathias zeigte auf Colette. »Wenn der Kleinen nicht rasch geholfen wird, ist sie so tot wie die alte Stadtmauer draußen. Macht einen Tisch für sie frei.«
Niemand von dem Bettelpack rührte sich. Wie festgewachsen hockten Männer und Frauen auf den Bänken und starrten uns aus fusel-getrübten Augen an. Ihr König zog eine Peitsche mit weißen Lederriemen, wie sie sonst von den Scharwächtern benutzt wird, aus dem Gürtel und fuhr mit deftigen Hieben unter sein träges Volk. Das Leder tanzte über Tische und Menschen, ließ Krüge und Haut aufplatzen.
Erst als Wein und Blut flossen, rührte sich das Gaunerpack und räum-te einen großen Tisch, auf den der Teppich mit Colette gelegt wurde.
Clopin streifte die Frau mit einem kühlen Blick und legte dem Zigeunerherzog eine seiner Pranken auf die Schulter. »Sagt, gab es wirklich nichts zu holen bei Eurem Abenteuer? Ihr steckt doch hinter dem Aufruhr beim Justizpalast, wo immerhin der Staatsschatz von Frankreich liegt.«
»Ihr habt schon davon gehört?« Mathias schien ganz vergessen zu haben, daß er sich im Hof der Wunder befand.
Der König warf sich hoheitsvoll in die Brust. »Die Hühnchen aus dem Châtelet fliegen schnell, aber meine Spione
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