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Im Schatten von Notre Dame

Titel: Im Schatten von Notre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Kastner
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rücklings ins brackige Uferwasser.
    Aus den blutigen Resten seines zerfetzten Gesichts starrte er mit totem Blick in den Himmel.
    Mathias und Tommaso schoben das Boot gänzlich in den Fluss und sprangen an Bord. Die vier anderen Zigeuner lagen schon in den Riemen und brachten uns mit schnellen Schlägen weg vom gefährlichen Ufer, wo sich trotzig die Mauern und Türme des Justizpalastes erhoben. Im Sonnenlicht blinkten die Fenster, als wollten sie uns verhöhnen. Und sie hätten allen Grund dazu gehabt. Siegesgewiss waren wir in den Kerker eingedrungen und hatten doch auf der ganzen Linie versagt. Marc Cenaines Befreiung war missglückt, und wir hatten drei Tote zu beklagen.
    Wie mochte Colette zumute sein? Wohl traurig und hilflos angesichts der Mauern, die ihren Vater mit eisernen Klauen festhielten. Ich drehte mich zu ihr um und erschrak. Mit geschlossenen Augen lag sie zusammengesunken in Villons Schoß, reglos und, wie es schien, ohne zu atmen. Der Pfeil eines königlichen Schützen war in ihre Brust und in ihr Leben gefahren.

Kapitel 3
    Der Hof der Wunder
    Die Verzweiflung warf ein dickes Tuch über mich, erstickte mein Denken und meine Sinne. Wie durch eine Nebelwand gedämpft hörte ich das Keuchen der Ruderer, das leichte Klatschen beim Eintauchen der Ruderblätter und das Plätschern des Wassers am Bootsrumpf.
    Die Gesichter meiner Gefährten und der Ägypter waren nur rundliche Flecke im grauen Einerlei der Bedeutungslosigkeit. Ich empfand nicht die geringste Freude darüber, den königlichen Schützen – dem Tod – im letzten Augenblick entronnen zu sein. Selbst daß mein Vater mir gegen-
    über saß, mit dem Leben davongekommen war, rührte mich nicht. Wie konnte ich darüber frohlocken, nach langer Suche meine Vergangenheit gefunden zu haben, wenn ich soeben die Zukunft verloren hatte?
    Mein ziellos umherirrender Blick kam nur zur Ruhe, wenn er sich auf Colettes weiche Züge heftete. Mit den geschlossenen Augen sah sie aus wie im friedlichen Schlaf. Das hätte man denken mögen, wäre nicht der grün gefiederte Schaft gewesen, der aus ihrer Brust ragte.
    Aus der Brust, auf der sich, rund um den Pfeilschaft, ein roter Fleck auszubreiten begann. Vergeblich suchte ich mich mit dem Gedanken zu trösten, daß der Tod für Colette eine Erlösung war. Sie brauchte nicht länger um ihren verlorenen Vater zu trauern. Falls Marc Cenaine den Kerker der Vergessenen nicht überlebte, und dafür sprach einiges, würden sie einander bald wieder sehen, ganz gleich, ob im Himmel der Christen oder dem der Katharer. Ich konnte darüber keine Erleichterung empfinden. Erst jetzt, zu spät, wurde mir bewußt, wie tief meine Gefühle für Colette waren.

    Dann glaubte ich, ein Dolch jage in mein Herz, als ich ein leichtes Flattern der Lider bemerkte. In höchster Erregung sprang ich auf, so heftig, daß ich fast das Boot zum Kentern gebracht hätte. Zumindest ich selbst wäre ins Wasser gestürzt, hätten die beiden Italiener mich nicht gepackt und wieder nach unten gezogen.
    »Sie lebt!« schrie ich mehrmals hintereinander. »Colette lebt!«
    »Natürlich lebt sie«, sagte Villon. »Aber ihr Atem geht sehr flach, und sie verliert viel Blut. Wenn sie nicht bald Hilfe erhält, wird sie Hardoin, Clément und Toison folgen.«
    »Was soll das?« schimpfte der Zigeunerherzog angesichts des schwan-kenden Bootes und warf mir einen wütenden Blick zu. »Seid Ihr des Wahnsinns?«
    »Nein, er ist nur zutiefst besorgt und nicht minder verliebt«, erklär-te Leonardo.
    Ich spürte neue Hoffnung und zugleich große Angst, die eben zu-rückgewonnene Colette wieder zu verlieren. »Wir müssen etwas unternehmen, sie braucht einen Arzt!«
    »Zunächst müssen wir ans Ufer«, erwiderte Mathias. »Bevor die Soldaten Boote auftreiben und uns verfolgen. Zum Glück haben sie nicht weiter auf meine Tochter geachtet.«
    Auf dem Uferstreifen zwischen dem Justizpalast und dem königlichen Garten waren nur noch die Schützen zu sehen, die es inzwischen aufgegeben hatten, uns ihre Pfeile und Bleikugeln nachzusenden. Der Hauptmann jagte aufgeregt seinen Rappen hin und her und brüllte irgendwelche Befehle. La Esmeralda und die Ihren hatten sich abgesetzt, während die Aufmerksamkeit der Soldaten allein uns galt. Ein großer, schwer mit Säcken beladener und entsprechend tief im Wasser liegender Lastkahn schob sich zwischen uns und die Westspitze der Cité-Insel. Die Soldaten waren nicht mehr zu sehen, nur die Türme des Palastes ragten hinter dem

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