Im Schatten von Notre Dame
seine Unterkunft war. La Esmeralda erstieg als erste die schmale Treppe und stieß die niedrige Tür auf.
»Tretet ein, mein Verbündeter«, sagte Mathias zu Villon. »Wir haben über Wichtiges und Schwerwiegendes zu beratschlagen.«
Als ich Villon folgen wollte, hielt mich die ausgestreckte Hand des Herzogs auf. »Dies ist eine Sache unter vier Augen!«
»Sie wird doch auch dabeisein«, sagte Villon mit Blick auf die Zigeunerin.
Mathias nickte. »Sie ist meine Tochter.«
Villon zeigte auf mich. »Und er ist mein Sohn.«
Ein wärmendes Gefühl, eine Mischung aus Stolz und Zuneigung, durchströmte mich bei diesen Worten.
»Oh«, sagte der Herzog nur und ließ mich durch. »Vielleicht ist es hilfreich, wenn Euer Sohn an der Beratung teilhat.«
Villon sah die Italiener an. »Tommaso, Ihr besorgt ein paar Decken und bringt sie Colette. Ihr, Leonardo, kommt in den Wagen.« Als er den fragenden Blick des Zigeuners spürte, fügte er hinzu: »Leonardo hat dazu nicht weniger Recht als Armand, und er ist ein sehr kluger Kopf.«
Verwirrende Worte, fand ich und fragte mich, ob Villon auf seinen frühen Wanderungen die Alpen überschritten hatte. Andererseits hatte Leonardo selbst mir erzählt, ein italienischer Notar sei sein Vater.
Mathias schloß die Tür hinter uns; la Esmeralda entzündete mit einem einsam vor sich hin glimmenden Docht ein paar Lampen, die das Innere des Wagens, kostbar bestickte Teppiche und Vorhänge, in warmes Licht tauchten. Wir setzten uns auf mit dicken Tüchern belegte Bänke um einen schmalen Tisch. Die Zigeunerin goß einen violett schimmernden Wein in gläserne Becher und setzte sich neben ihren Vater.
Der Herzog hob sein Glas. »In vino veritas, sagten die Römer. Vielleicht hilft auch uns ein guter Schluck, die Wahrheit zu finden oder ihr zumindest ein Stück näher zu kommen.«
Er trank, und wir taten es ihm nach. Der Geschmack des Weins war wie seine Farbe: ungewohnt, aber sehr angenehm. Der Wein kitzelte Gaumen und Zunge, ohne sie zu reizen, mit einer milden, aber ein-dringlichen Beimischung fremdartiger Gewürze. Ein warmes, zufriedenes Gefühl breitete sich in meinem Magen, in meinem ganzen Körper aus, ohne daß ich schläfrig wurde.
Wir sprachen über den misslungenen Befreiungsversuch, und Villon sagte bitter: »Der Plan war gut, die Sache wäre gelungen, hätte man uns nicht verraten.«
»Warum glaubt Ihr an Verrat?« fragte Mathias.
»Der Justizpalast wird stets gut bewacht, schon allein wegen des Staatschatzes. Aber eine ganze Abteilung Armbruster der königlichen Schützen hält sich gewiß nicht ständig im Kerker auf. Die haben uns aufgelauert. Dasselbe gilt für die Soldaten am Fluss, insgesamt war es wohl eine ganze Kompanie.«
»Nicht weniger«, bestätigte la Esmeralda. »Wären sie nicht so verbis-sen hinter euch hergewesen, hätten wir Schwierigkeiten gehabt, uns abzusetzen.«
Mit grimmigem Gesicht zog Mathias einen Dolch mit gebogenem Griff und langer, schmaler Klinge. Er stieß die Klinge über den Tisch.
»Wenn Verrat im Spiel war, muß es auf Eurer Seite einen Verräter geben, Villon.«
»Ein kühner Verdacht«, erwiderte dieser seelenruhig. »Als wir den Plan schmiedeten, waren Eure Leute ebenso zugegen wie die meinen.«
»Aber ich kann meinen Leuten trauen!«
»Und ich den meinen.«
»Vielleicht weiß der Verräter gar nicht, daß er einer ist«, warf Leonardo ein. »Jemand könnte den Plan unabsichtlich offenbart haben. Signore Armand, Ihr wart heute morgen im Châtelet. Habt Ihr diesem Falcone gegenüber eine unbedachte Äußerung getan? Es mag Euch unbedeutend erschienen sein, aber bedenkt, Sizilianer sind gerissen.«
»Ich habe nichts verraten. Wir sprachen nur über den Kampf auf der Müllerbrücke. Ich habe niemanden der hier Anwesenden auch nur er-wähnt.«
Die Dolchspitze richtete sich gegen mich, und der Herzog schnaubte:
»Dann ist der Schnüffler Euch einfach zum Justizpalast gefolgt!«
»Bestimmt nicht, ich habe viele Umwege gemacht, um jeden erdenklichen Verfolger abzuschütteln.«
»Wer steht dafür ein, daß Ihr nicht der Verräter seid, wenn auch ohne Euer Wissen?«
»Ich!« sagte Villon.
»Ach, und warum?« Mathias legte den Kopf schief und starrte ihn an. »Weil Ihr Euren Sohn schützen wollt?«
»Nein, weil es zwingend ist. Armand kam erst gegen Mittag zum Justizpalast, und kurz darauf betraten wir schon die Conciergerie. Die Falle dagegen war gut vorbereitet. Ein möglicher Verfolger hätte niemals so schnell eine
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