Im Schatten von Notre Dame
Frachtschiff auf. Wir hatten das rechte Ufer der Seine fast erreicht und blickten nach vorn, wo zwischen rankigem Buschwerk zwei bunte Gestalten vortraten und uns zuwinkten.
Mathias winkte zurück. »Da sind Milosch und Yaron. Sie werden uns fortbringen.«
Mit einem lang gezogenen, dumpfen Schrammen lief unser Boot auf Grund, und die Zigeuner zogen die Riemen ein. Milosch und Yaron halfen, das Boot auf den Uferstreifen zu ziehen. Ich erspähte unter den Büschen einen vierrädrigen, mit einer blauen Plane bespannten Wagen. Die beiden Zugpferde grasten friedlich.
Wir hoben die Verletzte aus dem Boot und trugen sie so sacht wie möglich in den Wagen, der nach Schweiß und fremdartigen Gewürzen roch. Mit einem heftigen Fußtritt stieß der Zigeunerherzog den Kahn zurück ins Wasser, wo er von der Strömung herumgerissen und fortge-tragen wurde. »Vielen Dank und gute Reise, Gevatter Boot!«
Er kletterte als letzter in den Wagen und zog die Einstiegsklappe zu.
Jetzt fiel nur noch wenig Licht durch kleine Öffnungen vorn und hinten. Milosch und Yaron enterten den Bock, ihre Hinterköpfe schoben sich vor die vordere Öffnung. Der grauhaarige Milosch ergriff die Zü-
gel und trieb mit schnalzenden Zungenlauten die Pferde an. Der Zigeunerwagen rumpelte und ruckelte schwerfällig über das unebene Ufergelände. Wir mußten uns und besonders die ohnmächtige Colette, die auf einem fleckigen Teppich lag, festhalten, sonst wären wir heillos durcheinander geworfen worden. Der Blutfleck auf ihrem Kleid war bereits größer als eine ausgestreckte Hand.
Besorgt blickte ich von ihr zu Mathias. »Wir müssen langsamer fahren, Colette hält das nicht aus!«
»Sie muß! Fährt Milosch langsamer, fasst uns dieser Hauptmann.
Wenn er klug ist, reitet er jetzt über die Müllerbrücke zum Châtelet, um die Zwölferschar zu alarmieren. Bald werden die Reiter des Profoses das Ufer nach uns absuchen.«
Wieder sah ich die reglose Colette an und flüsterte: »Dir kann nur noch ein Wunder helfen.«
Mathias warf mir einen schwer zu deutenden Blick zu. »Wenn Wunder geschehen in Paris, dann auf dem Wunderhof.«
Was das zu bedeuten hatte, erfuhr ich, als die scheinbar ewig währende Fahrt schließlich doch ein Ende fand. Auf Mathias’ Wink sprang einer der Zigeuner auf und öffnete die Luke. Wir stiegen ins Freie, auf einen schlecht gepflasterten Platz, der von hohen Mauern mit zerbröckelnden Türmen eingefasst wurde. Zwischen die Türme duckten sich Häuser, eins in erbärmlicherer Verfassung als das nächste. Wo noch Glas in den Fensteröffnungen saß, war es durch jahrzehntealten Schmutz erblindet. Einige Gebäude hatten mehr Löcher in den Dä-
chern als Öffnungen für Fenster und Türen.
Noch seltsamer als der Ort an sich erschienen mir seine Bewohner.
Die in einer Ecke kampierenden Zigeuner, vielfach doch als schmutziges Pack beschimpft, waren im Vergleich zu anderen Gestalten geradezu vornehm gekleidet und so sauber, als gehörten sie allesamt der Bader- und Barbierzunft an. Jenseits des Zigeunerlagers hingen über großen Feuern an Dreigestellen Kessel, von deren dampfendem Inhalt man nur hoffen konnte, daß er einladender war als die abgerissenen, lederhäutigen Vetteln, die lustlos den Kochlöffel schwangen. Ein paar Männer, durchweg finstere Gesellen mit ebenso schmutzigen wie verschlagenen Visagen, hockten im Schatten der Häuser und schnitzten an Holzbeinen und Krücken herum, als gelte es, eine Armee aus Beinlosen auszurüsten.
Kreischende Kinder, eine Horde von Dreckspatzen, umkreisten einen blonden Jüngling im gelb-roten Gewand des Possenreißers, der mit ausgebreiteten Armen und in den Nacken gelegtem Kopf vorsichtig über den Hof spazierte. Zwischen den Zähnen hatte er das Bein eines Schemels eingeklemmt, und so versuchte er, den Schemel mehr oder minder kunstvoll zu balancieren. Bis eine Katze – entweder aus Bosheit oder aus Spielerei – auf die Sitzfläche des Schemels sprang und das mühsam gehaltene Gleichgewicht störte. Der Schemel fiel zu Boden und zerbarst. Die darüber erschrockene Katze fauchte laut und sprang davon. Die Kinder johlten und bogen sich vor Schadenfreude, während der Gelb-Rote ihnen mit in die Hüfte gestemmten Händen eine Standpauke hielt. Als er uns erblickte, verstummte er und eilte uns entgegen. Ich erkannte in ihm den ehemaligen Schreiber und Mysteriendichter Pierre Gringoire. Suchend glitt sein Blick über unsere Gruppe und richtete sich dann auf Mathias. »Wo habt Ihr
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