Im Schatten von Notre Dame
Archidiakon die Gabe, einem Menschen bis ins Herz zu blicken. So erschien es mir jedenfalls, und ich fühlte mich unter seinem Blick wie einer von Quasimodos Glasmenschen: nackt, durchsichtig, zerbrechlich, schutz- und willenlos.
Ein unsichtbarer Nebel umwallte meinen Geist und machte ihn trä-
ge. Ich fühlte mich wie in jener Stunde, als Villon mich das Ende von Montségur hatte miterleben lassen. Mich beschlich die Angst, Frollo gänzlich ausgeliefert zu sein, ihm Dinge zu verraten, die unter keinen Umständen über meine Lippen kommen durften. Also schüttelte ich das lähmende Gefühl ab und zog mich an dem kleinen Tisch hoch, taumelig, mit wackligen Knien. Das Neue Testament fiel mir aus den Händen auf den Boden, die losen Seiten flatterten heraus. Ich stammelte etwas, um meine Anwesenheit, mein Herumstöbern in den Habseligkeiten des Glöckners, zu erklären, etwas von unverzeihlicher Neugier. An die genauen Worte erinnere ich mich nicht, so matt war in jenem Augenblick mein Verstand.
Dom Frollo lächelte, ich weiß nicht, ob verständnisvoll oder spöttisch. Er bückte sich nach dem Buch, hob es auf und blätterte es durch, wobei er die Mundwinkel verächtlich nach unten zog. »Wollt Ihr Quasimodo damit in die verhängnisvolle Kunst des Lesens einführen, Monsieur Armand?«
Frollo wußte es also, hatte unser Theater vielleicht schon in der Nacht durchschaut, als Quasimodo sich in meiner Zelle vor ihm versteckte.
»Er … er kam zu mir, um das Lesen zu lernen«, sagte ich stockend.
»Aber nur einmal, dann nicht wieder. Er hatte Angst vor …«
»Vor mir? Sprecht es ruhig aus, ich weiß, daß es so ist. Und es ist gut und richtig so. Die arme Kreatur braucht eine strenge, leitende Hand, um in dieser Welt zu überleben. Eine Hand, die sie vor allem Übel beschützt. Soll Quasimodo von der Welt der Menschen, die ihn versto-
ßen hat, lesen, um sie noch mehr zu vermissen? Notre-Dame ist seine Welt, hier hat er seinen Frieden gefunden. Warum seinen einfachen Geist mit Gedanken verwirren, die manch Klügerer nicht versteht?«
Voller Verachtung warf er das Buch auf den Tisch. Eine Vielzahl feiner Staubteilchen wirbelte hoch und vollführte im Lichtstrahl der Fenster-
öffnung einen lustigen Tanz, der nicht zum ernsten Ton des Archidiakons passen wollte. »Ihr, ein Mann der Feder, bewandert in der Ars ar-tificialiter scribendi, beschäftigt Euch mit Druckwerken?«
Mit einemmal sah ich mich in die Rolle des Verteidigers gedruckter Schriften gedrängt. »Aber immerhin … es ist das Neue Testament.
Ist das ein schlechtes Buch?« Dieselbe Frage hatte mir einst Quasimodo gestellt.
»Ja!« brach es mit Inbrunst aus Frollo hervor. »Es ist ein schlechtes Buch, weil es ein Druckwerk ist. Durch Gutenbergs Erfindung werden die Bücher zahlreich wie die Wassertropfen unten in der Seine. Ihre Masse führt zum Verfall der Preise. Wisst Ihr, daß ein italienischer Bischof nur drei Jahre, nachdem Gutenbergs Kunst in Italien Fuß gefaßt hatte, von dem niedrigen Kaufpreis der Bücher berichtete, der weniger als das betrug, was man früher allein fürs Binden auszugeben hatte?
Ihr selbst habt erfahren, wie schwer ein Kopist in diesen Tagen Lohn und Brot findet. Doch selbst den Druckern ergeht es so, der Verfall der Preise bringt sie fast an den Bettelstab. Deshalb sind sie gezwungen, alles zu drucken, wonach das Volk verlangt. So finden die frevlerischsten und dümmsten Gedanken Verbreitung und verstopfen die Köpfe, rauben den Menschen nicht nur die Fähigkeit der Ohren und die Kraft der Augen, sondern vor allen Dingen die Einsicht in das Wahrhaftige!«
»Und das wäre?« fragte ich gespannt. Frollo hatte immer erregter gesprochen, und ich hoffte, ihm ein paar unbedachte Worte zu entlok-ken. Worte, die mir bei meiner Suche nach Ouroboros helfen würden.
»Gottes Wort ist alles, was die Menschen brauchen. Daran müssen sie sich halten, an nichts sonst.« Die Antwort fiel enttäuschend knapp aus und zudem unglaubwürdig aus dem Munde eines Mannes, der sogar die hermetischen Künste bemühte, um sein Wissen zu erweitern.
Ich zeigte auf das Neue Testament. »Hier steht Gottes Wort. Was spricht also dagegen, das Buch unters Volk zu bringen?«
»Dummheit und Neugier, Beschränktheit und Wahn hindern die Menschen, das Wort des Herrn richtig zu verstehen. Wenn jeder die Heilige Schrift lesen kann, wird irgendwann jeder glauben, er allein wisse um die richtige Auslegung der Worte Gottes. Führt das nicht dazu, daß sich
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