Im Schatten von Notre Dame
von Minute zu Minute anwachsende Menge drängte sich um den noch leeren Galgen, der sich über die Dächer der Markthallen erhob.
»Wer wird hier baumeln?« fragte ich, als die Sergeanten stehen blieben.
»Ein Toter.« Die Antwort kam nicht von den beiden Männern im violetten Waffenrock, sondern von Piero Falcone, dessen schmale Gestalt sich hinter ein paar aufgeregt zur Richtstätte drängenden Bürgerinnen hervorschob.
»Seit wann hängt man Tote auf?« fragte ich den Kriminalleutnant.
»Auch Tote können hängen. Hier auf dem Schweinemarkt ist das alter Brauch.«
»Ich glaubte, die Menge will einen Menschen sterben sehen. Soviel Aufwand wegen einer Leiche?«
»Oh, der Mann ist noch nicht tot. Kommt mit, Monsieur, ich zeig’s Euch.«
Die beiden Sergeanten bahnten uns mit Rufen und derben Knüffen einen Weg auf eine kleine Holztribüne, die besonderen Gästen vorbehalten war. Von hier aus sah ich deutlich das seltsame Gestell neben dem Galgen. Ein riesiger Kessel, in dem man die Suppe für eine ganze Soldatenkompanie hätte kochen können, stand auf einem großen Ei-senrost, unter dem zwei an hölzernen Blasebälgen arbeitende Männer gerade ein Feuer entfachten. Über dem Kessel erhob sich eine Winde, ähnlich der, die ich im Glockenstuhl der Großen Marie gesehen hatte.
»Das ist’s, was den guten Nicolas erwartet.« Täuschte ich mich, oder vernahm ich in Falcones Worten einen Hauch von Mitgefühl? »Sagte ich Euch nicht, Monsieur Armand, daß man Falschmünzer in siedendes Öl taucht?«
»Ich erinnere mich.« Ich ließ meinen Blick über den sich füllenden Platz schweifen. »Ein ordentliches Spektakel mit einer angemessenen Zahl von Zuschauern. Habt Ihr einen besonderen Grund, mich dazu einzuladen?«
»Aber ja, das wisst Ihr ja noch gar nicht!« Der Leutnant lächelte und klatschte in die Hände. »Nicolas Manchot hat gestanden, der Schnitter von Notre-Dame zu sein. Und da, seht, da bringt man ihn schon! Messire Noiret und Maître Torterue führen den Umzug an. Falschmünzer müssen langsam sterben, das ist ein Fall für den Foltermeister.«
Es war ein ähnlicher Aufzug wie auf dem Grève-Platz, damals, als man Quasimodo an den Pranger gestellt hatte. Der Verurteilte schien sogar auf demselben Maultierkarren zu hocken, ein dürrer, abgezehrter Mann von etwa dreißig Jahren, krummgeschlossen und mit glanz-losen, schon toten Augen.
»Aber der heißt ja nicht nur Manchot, der hat ja wirklich nur einen Arm!« entfuhr es mir, als ich den krumpeligen Stumpf unter der rechten Schulter entdeckte.
»Drum heißt er ja so. Er hat in einer Buchdruckerwerkstatt gearbeitet und seine Nase mehr in den Wein als in die Druckerschwär-ze gesteckt. So legte er eines Tages, fünf oder sechs Monate kann es her sein, nicht nur das Papier, sondern auch seinen Arm in die Presse. Viel blieb nicht übrig, wie Ihr seht. Seitdem schlägt er sich mehr schlecht als recht durchs Leben, und man muß ihm zugestehen, daß er sich redlich müht, für seine Gemahlin und die sechs Kinder zu sorgen.«
»Seid Ihr toll?« fuhr ich Falcone an. »Ihr nennt einen Mann, der anderen die Kehle durchschneidet, redlich? Und überhaupt, wie soll einem Einarmigen das gelingen? Bei Schwester Victoire vielleicht mögen seine Kräfte gereicht haben, aber Odon war kein Schwächling!«
»Ihr habt das Dilemma erkannt, Monsieur Armand. Aber sehen wir uns den Unglücklichen ruhig aus der Nähe an, es wird das letzte Mal sein.«
Wir stiegen von der Tribüne zu dem Karren hinab, der nun zwischen Kessel und Galgen stand. Die Holzscheite unter dem Feuerrost hatten sich entzündet, knackten und knisterten, und aus dem Kessel glaubte ich ein leises Blubbern zu hören. Ölgeruch biss in meine Nase.
Zwei Scharwächter zogen Nicolas Manchot vom Karren. Der Einarmige hielt den Kopf gesenkt, bis Falcone seine Hand unter das stoppelige Kinn schob und Manchots Haupt anhob. Die teilnahmslosen Augen zwinkerten, und der Verurteilte fing den Blick des Polizisten auf.
»Nun, Nicolas, ich gebe dir eine letzte Gelegenheit. Widerrufe dein Geständnis, und ich werde die Hinrichtung abblasen.«
»Ihr habt mich foltern lassen, Leutnant«, erwiderte der Einarmige mit der rauen Stimme des Gewohnheitstrinkers. »Warum, glaubt Ihr, sollte ich jetzt noch widerrufen?«
»Weil du angesichts dieses Kessels und des Galgens dort vielleicht doch zu der Erkenntnis gelangst, daß deinen Kindern ein mittelloser Vater lieber sein wird als gar keiner. Und auch deine Frau wird das
Weitere Kostenlose Bücher