Im Schatten von Notre Dame
am Himmel wirkte der Turm düster, als berge er hinter seinen alten Mauern ein schreckliches Geheimnis.
Im Innern des Turms lehnte ich mich gegen das kühle Gemäu-er und atmete tief durch. Nichts war geschehen, natürlich nicht, und nichts würde mir geschehen, solange ich achtsam war. Das gleichmä-
ßige Glockengeläut gab mir Sicherheit. Ich hatte darauf geachtet, daß nicht irgendein Mesner, sondern Quasimodo selbst es war, der in seinem schwerfälligen Wackelgang in den Nordturm stieg, um eine der sechs Glocken zur Sext zu schlagen. Und doch war Quasimodo hier, in der geräumigen Glockenstube des Südturms, allgegenwärtig. Ruhig hing die Große Marie an ihrem schweren Gestell und döste in der durch zahlreiche Fensteröffnungen einfallenden Mittagssonne, gewiß, daß ihr dunkler, voller Klang erst in ein paar Tagen zur Feier des Ersten Mais gefragt war.
Vorsichtig durchmaß ich den Raum, blickte mich nach allen Seiten um und stellte fest, daß es wenig zu sehen gab. Konnte ich hier wirklich das finden, was ich in den vergangenen Wochen überall in der Kathedrale gesucht hatte? Jede Kapelle, jede Galerie hatte ich nach dem geringelten Drachen abgesucht, nach Ouroboros. Vergebens. Wenn Notre-Dame tatsächlich das Geheimnis des Sonnensteins hütete, schien sie nicht gewillt, es mir zu offenbaren.
Plötzlich bewegte sich etwas im Stroh zu meinen Füßen. Erschrok-ken sprang ich zurück und hätte um ein Haar das Gleichgewicht verloren. Hätte mir nicht ein hölzerner Strebebalken des Glockenstuhls im letzten Augenblick Halt gegeben, wäre ich in das tiefer liegende Turm-geschoß gestürzt, in das die Seile der Großen Marie und ihrer kleineren, aber immer noch mächtigen Schwester Jacqueline hinabhingen, um zu besonderen Festlichkeiten von den Mesnern, die Quasimodo bei den schweren Glocken unterstützten, bedient zu werden. Eine fette schwarze Ratte, die ich in ihrem Mittagsschlaf gestört hatte, huschte davon und verschwand in einem schattigen Winkel.
Ich konnte das Tier nicht mehr sehen, obwohl es weder nach drau-
ßen noch in den kleineren Glockenstuhl, wo Jacqueline ausruhte, geflohen war. Erst als ich dem Weg der Ratte folgte, entdeckte ich den schmalen Durchlass in dem finsteren Winkel. Durch ihn betrat ich den Ort, den ich gesucht und den ich bislang ebenso wenig zu betreten gewagt hatte wie Dom Frollos Hexenküche: Quasimodos Kammer.
Im Gegensatz zur geheimnisvollen Zelle des Archidiakons gab es hier keine Tür und kein Schloß. Ich konnte ungehindert eintreten und, solange die Glocke zur Sext schlug, sicher sein, nicht vom Bewohner dieser abgelegenen Zuflucht überrascht zu werden. Wenn ich mich, sobald die Glocke verstummte, aus dem Staub machte, würde der Glöckner von meinem Besuch nichts merken, selbst wenn er umgehend zum Südturm zurückkehrte. Inzwischen kannte ich mich in den Türmen der Kathedrale gut genug aus, um mich vor ihm zu verbergen.
Ich hatte gefunden, was ich suchte, und war doch enttäuscht. Die bescheidene Kammer mit ihrer einfachen Einrichtung war nicht der Ort, ein Geheimnis zu hüten, von dem das Schicksal der Welt abhing. Das erkannte ich auf den ersten Blick, der ein grob zusammengehauenes Bettgestell, eine hölzerne Truhe, einen Tisch, einen Schemel und ein wackliges Wandbord mit einigen Nahrungsmitteln erfasste. Das Be-merkenswerteste an dieser Stube war ihre Nähe zum Glockenstuhl.
Kein Wunder, daß Quasimodo sowenig hören konnte wie der Taub-stumme, den der Erlöser auf seiner Wanderung von Tyrus ans Galilä-
ische Meer heilte. Jeder Schlag der gewaltigen Glocke mußte hier wie ein Beben der Erde zu spüren sein, eine Kraft, die über kurz oder lang jedes Trommelfell zerreißen mußte wie ein Blatt Papier.
Wenn es hier überhaupt etwas zu entdecken gab, dann in der Truhe. Der Deckel ließ sich mühelos anheben, das verrostete Schloß muß-
te seit Jahren nicht mehr zu benutzen sein. Schon wollte ich die Truhe wieder verschließen, denn sie schien nichts als Kleidungsstücke zu enthalten, dann aber klirrte etwas leise unter meinen suchenden Händen. Ich förderte ein mehrfach zusammengeschlagenes Tuch zutage, ein Bündel, das Glassplitter enthielt. Nein, keine Splitter mit scharfen Kanten und Ecken, sondern abgerundete Stücke bunten Glases, wie es die Fenster der Kathedrale zierte. Vielleicht waren es Abfälle, oder Quasimodo hatte sich heimlich bei den Glasern bedient. An dem gro-
ßen Gotteshaus mußte ständig etwas ausgebessert werden. Werkzeug sowie
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